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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Rühren am Tabu …

Stichwörter: 1970er Biografie Blossom Carlson Clark Drama Gillen Horror Jubiläum Kanada Klassiker Komödie Kriminalfilm Ormsby Spielfilm Thriller USA

Deranged (1974)

Umberto Lenzi brachte, inspiriert auch vom essayistischen Mondo-Dokumentarismus, mit "Il paese del sesso selvaggio" (1972) einen frühen Startschuss des italienischen Kannibalenfilms heraus, der in der zweiten Hälfte der 70er Jahre bis in die frühen 80er Jahre boomen sollte; 1972 stürzte auch ein Passagierflugzeug in den Anden ab, wobei die Überlebenden sich dazu durchrangen, das Fleisch der Verstorbenen zu verzehren, bis Rettung eintraf. Dieses Ereignis verarbeitete Clay Blair in dem Buch "Survive!" (1973). Kannibalismus, dessen Motivik George A. Romero mit "Night of the Living Dead" (1968) bereits im Kontext des modernen Zombiefilms auf die Leinwand gebracht hatte, war nun vielleicht noch nicht in aller Munde, aber doch ein Phänomen, dem breitere Aufmerksamkeit zuteil wurde als in den Jahren zuvor. Und es war ein Motiv, das vor dem Hintergrund des Vietnam-Krieges zur Abrechnung mit einer sich selbst zerfleischenden Gesellschaft zu taugen schien. Bob Clark ("Black Christmas" (1974)), Jeff Gillen und Alan Ormsby, die zuvor schon in unterschiedlichen Funktionen an "Children Shouldn't Play with Dead Things" (1972) beteiligt waren, der in der Folge von Romeros Klassiker bereits (in äußerst zahmer Form) die wandelnden Toten mit ihrer Gier nach menschlichem Fleisch aufgriff, waren dann ab März 1973 auch an an "Deranged" beteiligt, der zwischen Februar und dem 6. März 1974 seine Uraufführung erlebte. Clark war (ohne Nennung in den credits) eher beratend tätig – und drehte als Regisseur den ambitionierten "Dead of Night" (1974), in dem ein toter Sohn als Zombie aus dem Vietnam-Krieg heimkehrt –, Gillen und Ormsby teilten sich indes die Regie bei dem Film, der die Taten von Ed Gein, dem Ghoul von Plainfield, auf Leinwand bannte, die schon Robert Blochs "Psycho" (1959) und Hitchcocks Verfilmung inspiert hatten. Robert Blossoms spielt darin den psychotischen Ezra Cobb, der nach dem Tod der religiösen, dominanten Mutter in seiner Einsamkeit ihre Identität zeitweise übernimmt, ihren Körper exhumiert und bald Teile anderer Leichen, später auch von Mordopfern, nutzt, um sein Haus zu dekorieren oder Masken und Anzüge für seinen eigenen Körper herzustellen. Nekrophilie und Kannibalismus wurden Gein, in dessen Pfanne man bei der Untersuchung seines Hauses nach seiner Verhaftung zumindest menschliche Organe vorgefunden hatte, immer wieder zugeschrieben, den sexuellen Kontakten zu Leichnamen hatte Gein selbst stets bestritten. Mit den bizarren Taten Ed Geins lockte "Deranged", der eingangs noch semidokumentarisch einen vermeintlichen Reporter (Leslie Carlson) über den Fall berichten lässt, dessen grafische, explizite Umsetzung im zu sehenden Film er sodann warnend verheißt. (Für die Trickeffekte war kein Geringerer als Tom Savini verantwortlich, der seine großen Erfolge wie "Dawn of the Dead" (1978) erst noch vor sich, die Schrecken des Vietnam-Krieges, aus denen sich sein Schaffen durchaus auch speiste, allerdings bereits hinter sich hatte.) Doch gerade Nekrophilie und Kannibalismus bleiben abwesend in "Deranged", der solche Grenzverstöße allenfalls assoziativ anspielt. Und doch präsentiert der Film mit einem Mix aus schwarzem Humor und verstörenden Schockmomenten ein Konsumieren toter menschlicher Körper, das nicht bloß drastisch daherkommt, sondern teils in seiner Geräuschkulisse, teils mit einer sprunghaften Montage und mit extremen Kameraperspektiven sowie mit einer bizarren Dinnerszene den ebenfalls Ed-Gein-inspirierten "The Texas Chain Saw Massacre" (1974) vorwegnehmen sollte, der im Herbst des Jahres erscheinen sollte – und dann tatsächlich neben einigen anderen Horrorfilmen aus den letzten Monaten des Jahres 1974 Kannibalismus in Szene setzte. "Deranged" – neben den großen Ed-Gein-inspirierten Filmen "Psycho" (1960), "The Texas Chain Saw Massacre" und "The Silence of the lambs" (1991) sicherlich der am wenigsten ikonische, am wenigsten legendäre, im Vergleich mit kuriosen Kannibalismus-Reißern wie "Three on a Meathook" (1972) und "Cannibal Girls" (1973) jedoch der weit wirkmächtigere, beunruhigendere Streifen – ist insofern eine Art Überleitung, eine Art Initialzünfung, überführt er doch das Konsumieren toter menschlicher Leiber aus dem phantastischen Sektor des Zombiefilms auf die realistische Ebene, grafische Drastik, bizarre Komik und eine zutiefst beunruhigende Tonlage vermengend, die man so in dieser Form kaum kannte, die nun aber vielfach wiederkehren sollte. Robert Blossoms, der zuvor schon mit komödiantischen Auftritten überzeugte, verleiht der Hauptrolle dabei schrullige, tragische und bedrohliche Züge gleichermaßen, präsentiert eine krankhafte Figur, die Täter und auch Opfer (der Mutter, des Wahns) ist. Einen verantwortungsbewussten Umgang mit psychischen Erkrankungen bleibt der Film allerdings wie so viele andere Werke schuldig...
Bei Wicked-Vision Media (Fassungseintrag von ShapeshiftersFX) ist eine schöne Dual-Format-Edition des Films herausgekommen, die wie die alte deutsche DVD von Legend / Universum Film (Fassungseintrag von redeyes) auch die einstmals herausgeschnittenen Präparationsszenen enthält ...


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