Malpertuis: Histoire d'une maison maudite (1972)
1971 hatte Harry Kümel mit "Les lèvres rouges" (1971) einen der hochwertigsten Beiträge zum erotisierten Vampirfilm der frühen 70er Jahre abgeliefert. Die alptraumhafte, leicht surreale, sadomasochischtische Phantasmagorie in einem unheimlichen Ostende gehört gar zu den qualitativen Höhepunkt des phantastischen Kinos in Europa überhaupt, aber sein Opus magnum hatte Kümel erst noch vor sich. Bzw. arbeitete er schon daran, noch ehe "Les lèvres rouges" im Mai 1971 erstmals zu sehen war: Es handelte sich um eine Verfilmung des wohl bedeutendsten Werkes seines – in französischer wie niederländischer Sprache schreibenden – Landsmannes Jean Ray, die zu den gewichtigsten phantastischen Romanen des 20. Jahrhunderts zählt. Am 10. Mai 1972 kommt dann Kümels "Malpertuis: Histoire d'une maison maudite" nach dem 1943 erschienenen, französischsprachigen Roman Rays in Cannes erstmals auf die Leinwand. Im Folgejahr sollte Kümel eine knapp 20 Minuten längere Version als eine Art Director's Cut vorlegen, diesmal in niederländischer Synchronfassung, die – wie so oft im europäischen Film – sowenig als original anzusehen ist wie die französischsprachige Version des Films. Mit Orson Welles in einer Paraderolle, die allerdings auf wenige und nicht sehr agile Momente beschränkt bleibt, beginnt Kümel seine anfängliche Erbschafts- und Intrigengeschichte, wobei Mathieu Carrière als junger Neffe Jan die eigentliche Hauptfigur abgibt. Und wie bei Ray kommt diese bald dahinter, dass in dem gigantischen labyrinthischen Anwesen eines einstigen Rosenkreuzlers die Götter Griechenlands dahinsiechen, deren Lebensfähig dahingeschmolzen ist, je mehr sie an Relevanz für die Menschen eingebüßt haben. Ihr ganzes Sein entfaltete sich und verging einzig mit der Außenwirkung aus dem Blickwinkel der Menschen, die für diese Götter keine Verwendung mehr gefunden haben. Daraus machte Kümel einen so traurigen, wie humorvollen, so unheimlichen wie surrealen, so erotischen wie bedeutungsschwangeren Film. Kann man Rays Roman vor dem Hintergrund des tosenden Zweiten Weltkrieges und dem Nationalsozialismus betrachten, so kann man Kümels in Teilen freie Umsetzung vor dem Hintergrund einer schon 1969 erschütterten 1968er-Bewegung und des weltweit wahrgenommenen Vietnamkrieges betrachten: Auf diese Weise lässt sich der Stoff – als phantastische, wunderbare Version vom Märchen von des Kaisers neuen Kleidern – als eine Verhandlung der sehr realen Wirkmächte von Wahrnehmungen und Ansichten betrachten. Der große Durchbruch blieb dennoch aus, auch so manchen Kritiker(inne)n blieb Kümels Ray-Verfilmung suspekt. Unter Cinephilen entwickelte sich das ambitionierte Werk indes zu einem Geheimtipp, den das Koninklijk Film Archief in seiner Kroniek van de vlaamse Film, 1955-1990 aufnahm, als schöne Doppel-DVD mit beiden Versionen (in jeweils drei Sprachfassungen) herausbrachte: Fassungseintrag von Konrad