Zerkalo (1975)
Obwohl der russische Regisseur Andrei Tarkowski bereits mit den drei außergewöhnlichen Spielfilmen „Iwans Kindheit“ (1962), „Andrej Rubljow“ (1966) und „Solaris“ (1972) schon viel Aufmerksamkeit erfahren und dafür mit internationalen Preisen bedacht worden war, hatte sein vierter Langfilm „Zerkalo“ keine reguläre Premiere, vielmehr ließ der staatliche sowjetische Filmverleih Goskino „Zerkalo“ ab dem 7. März 1975 nur in der sogenannten Zweiten Kategorie anlaufen, d.h. mit nur wenigen Kopien und ohne die Teilnahme an Festivals. Erst im Juli 1975 wurde der Film auf dem Moskauer Filmfestival gezeigt, ganze drei Jahre später gelangte er schließlich auch ins Ausland.
Die Ablehnung des staatlichen Filmbetriebs hatte „Zerkalo“ 1968 schon einmal getroffen, denn damals war das fertige Drehbuch nicht verfilmt worden, das Tarkowski und sein Ko-Autor Alexander Mischarin fertiggestellt hatten. Der vollendete Film entspricht dann auch tatsächlich in keiner Weise der offiziell proklamierten Ästhetik des sozialistischen Realismus, was das institutionelle Unbehagen verständlich werden läßt. Tarkowski und Mischarin verzichten auf einen klassischen Plot und tauchen in den ganz persönlichen inneren Bewußtseinsstrom ihres Protagonisten ein. Dieser ist, so erschließt sich erst allmählich, ein erwachsener Mann in den 1970er Jahren, er befindet sich aktuell im Streit mit seiner getrennt lebenden Frau um den gemeinsamen Sohn, und er beschäftigt sich intensiv mit Erinnerungen an seine Kindheit während des Zweiten Weltkriegs. „Zerkalo“ erschafft ein schillerndes Kaleidoskop aus kürzeren und längeren Erinnerungsfetzen, die nahtlos in Szenen der Gegenwart übergehen und daher die Zeitebenen einander überlappen lassen. Margarita Terekhova spielt mit großer Verletzlichkeit sowohl die Ehefrau der 70er als auch die Mutter der 40er Jahre, es tauchen viele vertraute Motive aus Tarkowskis Ton- und Bildkosmos auf (verschüttete Milch, Wasser und Feuer, auffliegende Vögel, Renaissancegemälde, Barockmusik, langsame Kamerafahrten), Schwarzweiß- und Farbfilm wechseln einander ab, Zeitlupen dehnen bestimmte Augenblicke, abrupte oder irritierende Schnitte verkürzen andere, einmontiertes Wochenschaumaterial verweist auf vergangene und aktuelle Kriege. „Zerkalo“ beruht weder auf einer literarischen Vorlage noch einer historischen Figur, sondern speist sich vollständig aus den Erfahrungen, Erinnerungen und Befindlichkeiten seiner beiden Autoren. Wie bedingungslos persönlich die Introspektion gehalten ist, zeigen selbstreferentielle Bezüge (ein Plakat von „Andrej Rubljow“ rückt prominent ins Bild) oder die Besetzung von Nebenrollen mit Tarkowskis Freunden, seiner Ehefrau und seiner Stieftochter.
Im Essayband „Die versiegelte Zeit“ (1984) hat Tarkowski später seine filmtheoretischen Ansätze ausformuliert und damit eine akademische Lesart seiner Filme nahegelegt, was sich in zahllosen Schriften, Kommentaren und DVD/Blu-ray-Bonusmaterialien widerspiegelt. Man sollte „Zerkalo“ jedoch vor allem auf einer rein empathisch-sinnlichen Ebene begegnen, trotzdem kann der Film die Zuschauer bis heute frustrieren (siehe die OFDb-Kritik von Berny23) oder begeistern (OFDb-Kritik von Alex Kiensch). Mosfilm stellt Tarkowskis faszinierende Selbstbespiegelung auf Youtube in restaurierter Form und mit deutschen Untertiteln zur Verfügung.
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