21. August 2018

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von ratz

Vor 50 Jahren: Svankmajer im Tauwetter – 1968-Retrospektive XV, Prager Frühling II

Zahrada (1968)

Als 1968 während des 29. Filmfestivals in Venedig der Kurzfilm „Zahrada“ („Der Garten“) des tschechischen Animationsfilmers Jan Svankmajer vorgestellt wurde, geschah dies vor dem Hintergrund denkwürdiger politischer Umwälzungen in Europa: wenige Tage vor Festivalbeginn, in der Nacht zum 21. August, waren eine halbe Million Soldaten aus Ostblockstaaten in die Tschechoslowakei eingerückt, um als Ordnungsmacht des Warschauer Paktes die liberalen Reformbemühungen der tschechoslowakischen kommunistischen Partei zu unterbinden und das Land zurück auf die vom Kreml vorgegebene Linie zu bringen. Es gab zahlreiche Tote und Verletzte, Aufruhr und brennende Barrikaden auf den Straßen, und etwa eine Woche später war der „Prager Frühling“ gewaltsam beendet und damit dem Traum von einem weniger dogmatischen Kommunismus zerstört. Auch beim Filmfestival in Venedig waren Auswirkungen der europaweit stattfindenden Protestbewegungen spürbar: es gab öffentliche Demonstrationen von Studenten, Polizeieinsätze und den Boykott der Verbandes italienischer Filmkünstler (ANAC).

Vermutlich ging in jenen bewegten Tagen der auf den ersten Blick unpolitische, nur 17 Minuten lange Schwarzweißfilm „Zahrada“ etwas unter, zumal ihm etwas fehlt, was damals und heute als hervorstechendes Merkmal von Svankmajer-Filmen gilt: die Stop-Motion-Animation. Wenn Flach- oder Knetfiguren oder auch Alltagsobjekte ein überraschendes Eigenleben gewinnen und durch oftmals rasante Schnitte, merkwürdige Toneffekte und irritierende Großaufnahmen begleitet werden, läßt sich sofort der ganz persönliche Stil Svankmajers ausmachen, in dem hintersinniger Humor eine wichtige Rolle spielt. Doch in den 1960er Jahren gab es eine experimentelle Phase in seinem Schaffen, in der die Animationen in den Hintergrund rückten. „Zahrada“ nutzt ausschließlich „echte“ Schauspieler in „echten“ Umgebungen, es gibt wenig Musik, allein die Schnitte bleiben idiosynkratrisch – Svankmajer selbst bezeichnete den Film als seinen ersten Beitrag zum Surrealismus. Und tatsächlich ist der Begriff nicht unangebracht, ähnlich wie in den Filmszenarien etwa eines Luis Buñuel beginnt „Zahrada“ in einem vertrauten, alltagsrealistischen Setting, in das dann absurde oder widersprüchliche Elemente eingeführt werden, die von den Protagonisten mit großer Selbstverständlichkeit aufgenommen werden.

Die Handlung von „Zahrada“, die auf einer Kurzgeschichte von Ivan Kraus basiert, ist schnell umrissen: Zwei Männer, Josef und Frank, fahren mit dem Auto zu einem stattlichen, freistehenden Haus. Um dieses Haus und seinen Garten bildet eine Menschenmenge, die sich an den Händen hält, einen Ring, einen „lebendigen Zaun“, wie der Besitzer Josef erklärt. Frank ist fasziniert, und nach kurzer Überlegung fügt er sich selbst in eine Lücke des „Zaunes“ ein, sehr zur Zufriedenheit von Josef, der das scheinbar erwartet hat. – Zieht man die Tauwetterperiode in der Tschechoslowakei in Betracht, die die Zensur gelockert und damit den Künsten einen Aufschwung und auch Mut zur Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnisssen verschafft hatte, so liegt die Annahme nicht fern, auch Svankmajer habe mit seinem Film eine politische Aussage machen wollen. Der Zuschauer identifiziert sich zu Beginn des Films mit dem passiven, scheu beobachtenden Frank, der kaum ein Wort sagt, dominant tritt dagegen der leutselig schwadronierende Josef auf, der den Wagen steuert. In seinem Anzug, mit seiner hohen Stirn und seiner Brille macht er den Eindruck eines Beamten oder Funktionärs, während Frank ein unscheinbarer Mann von der Straße zu sein scheint. Der lebendige Zaun bleibt das einzige, vergleichsweise zahme surreale Element in „Zahrada“, was ihm zugleich eine herausgehobene, symbolische Qualität verleiht. Sind die Menschen, die den Zaun bilden, ein Volk und das Haus in der Mitte der Staatsapparat? Ist der lebendige Zaun die verordnete Grenze zur Außenwelt, der Eiserne Vorhang in veränderter Metaphorik? Ist Josef der maßregelnde, strafende oder Straffreiheit gewährende Staatsdiener (so verhält er sich gegenüber einem verängstigten Mitglied des „Zaunes“)? Steht Frank für den passiven Unpolitischen, der sich instrumentalisieren und steuern läßt, statt den status quo in Frage zu stellen? Mit einer solchen Bildhaftigkeit befände sich Svankmajer, der die Bedeutung von „Zahrada“ klugerweise nie kommentiert hat, im Einklang mit anderen Künstlern des Ostblocks während des Kalten Krieges, die ihre kritische Auseinandersetzung mit dem real existierenden Sozialismus in poetische, verschlüsselte oder verfremdende Formen gießen mußten, um die offizielle Zensur zu umgehen. Daß das politische Klima der Tschechoslowakei nach dem Prager Frühling empfindlich kälter wurde, bekam auch Svankmajer zu spüren, als er 1973 wegen seines Kurzfilmes „Leonardův deník“ mit sieben Jahren Berufsverbot belegt wurde (während denen er zum Glück nicht unproduktiv blieb).

„Zahrada“ bietet sich für einen historisch verankerten Interpretationsansatz, wie er oben skizziert wurde, an, läßt aber aufgrund seines zeit- und ortlosen Szenarios auch andere Deutungen zu. Der Film ist in der bis heute maßgeblichen und unbedingt empfehlenswerten Svankmajer-Kurzfilmsammlung des British Film Institute enthalten (Fassungseintrag), die in Großbritannien als reich ausgestattete DVD-Box erschienen ist. Hier lassen sich viele weitere, immer originelle und inspirierende Kurzfilme entdecken, die mehrere Jahrzehnte umspannen und einen guten Eindruck vom Werk Jan Svankmajers vermitteln, der bis heute aktiv ist und seinen letzten Langfilm „Insect“ im Frühjahr dieses Jahres herausgebracht hat.

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