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von PierrotLeFou

Vor 50 Jahren: Pasolinis umstrittener Skandalfilm

Stichwörter: 1970er de-Sade Frankreich Italien Jubiläum Klassiker Literaturverfilmung Parabel Pasolini Skandalfilm Spielfilm


Salò o le 120 giornate di Sodoma (1975)
Mit "Accattone" (1961), einem der ergreifendsten, sehenswertesten Filme schlechthin, hatte Pier Paolo Pasolini seine Karrieren begonnen, in der auch noch kraftvolle, hochqualitative und recht unterschiedliche geartete Streifen wie "Mamma Roma" (1962), "Il vangelo secondo Matteo" (1964), "Teorema" (1968), "Il fiore delle mille e una notte" (1974) oder der essayistische "Appunti per un'Orestiade africana" (1970) folgten. Am bekanntesten sollte allerdings sein so skandalisierter wie umstrittener "Salò o le 120 giornate di Sodoma" werden, der am 22. November 1975 – knapp drei Wochen nach der aufsehenerregenden und bis heute nicht endgültig geklärten Ermordung des Regisseurs am Strand von Ostia – uraufgeführt wurde und flugs einen der obersten Plätze in der Skandalfilmgeschichte belegte. Der Film basiert klar auf Marquis de Sades fragmentarischen "Les 120 Journées de Sodome ou L’Ecole du Libertinage" (1785/1904), macht aber ebenso deutlich die faschistische Repubblica di Salò aus der Zeit des späten Zweiten Weltkrieges zum Setting der vier Monate, in denen vier Würdenträger mit ihren willfährigen Handlanger(inne)n eine Schar jugendlicher Opfer missbrauchen, erniedrigen, foltern und morden (lassen), während die ruchlose Triebhaftigkeit im kruden Gegensatz zum ehrbaren Status der Figuren steht. Pasolini bewegte sich mit dem Film nach der fast 200 Jahre alten Vorlage dicht am Zeitgeist, gehörte de Sade doch Anfang/Mitte der 70er Jahre zum beliebten Bezugspunkt gewichtiger Intellektueller, etwa im Tel Quel-Umfeld, wobei auch diese späte postume Popularität im Film Thema wird. Vor allem aber hat Pasolini im Sinn: Die Strenge der Vorlage formal adäquat in einen beklemmend kalten Film zu übertragen, den Sadismus der Macht und die Unwahrscheinlichkeit organisierten breiten Widerstandes am Beispiel des Faschismus durchzuspielen und einen gefräßigen Konsumismus, der eine Degeneration einer Gesellschaft fördere. Die adäquate Übertragung ist formidabel gelungen, derweil die Gedanken zu Faschismus und Konsumgesellschaft nur mit größeren bzw. erheblichen Abstrichen und auch teils nur im Kontext zeitgenössischer Äußerungen Pasolinis überzeugen. Hochwirksam ist aber nach wie vor die Diskrepanz zwischen weihevoller Noblesse und pervertierter Triebhaftigkeit, die immer wieder aktuell anmutet, wo sich teils mehr, teils weniger ehrbar gebende Mächte als verkommendes Pack offenbaren: über den Abu-Ghuraib-Skandal
Sednaya lässt sich das bis zum Foltergefängnis Sednaya, russischen Strafkolonien, der Causa Epstein oder die Gräuel der radikalislamischen Hamas beim Überfall am 7. Oktober lässt sich "Salò o le 120 giornate di Sodoma" immer wieder als Film zur Stunde sehen, der die Verkommenheit im Gewand von recht, Ordnung, Macht, Elite, Ehrbarkeit etc. (nicht unbedingt genüsslich, aber sorgsam) desavouiert. Das mag zusammen mit der Anstößigkeit von Bild und Ton des Films den langanhaltenden Erfolg als Skandalfilm erklären: Faschismus und Konsumismus haben sicher keinen nennenswerten Anteil an der Popularität eines Films, der als Mutprobe oder Horrorfilm, als anstößige Erfahrung oder weirde Absonderlichkeit Mode machte und Schaulust befriedigte – und in wunderhübsch aufbereiteten Heimkino-Editionen selbst mittlerweile ein chices Komsumprodukt abgibt…
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