18. Mai 2018

Beitrag

von PierrotLeFou

Vor 75 Jahren: Geburtsstunde des Neorealismus?

Ossessione (1943)

Was es bedeutet, angesichts von Filmen vom Realismus zu sprechen, hängt jeweils davon ab, wie der Sprechende Realismus überhaupt definiert (was er in den allermeisten Fällen gar nicht erst tut). Dasselbe gilt auch für den Neorealismus - und für den poetischen Realismus, welcher als Inspirationsquelle für den Neorealismus angesehen werden muss.
Das macht es nicht unbedingt einfach und der Umstand, dass eine von Jean Renoir beeinflusste Verfilmung eines Roman noir (durch einen Aristokraten mit Sympathien für den Kommunismus) vielfach zum Beginn des Neorealismus erhoben worden ist, mag zusätzlich irritieren.
Im poetisches Realismus der französischen Schule wurden meist die sozialkritischen Geschichten tragisch scheiternder Vertreter eines proletarischen Milieus gebündelt. Jean Renoir hatte dabei besonders großen Einfluss auf den späteren Neorealismus mit seinen (d.h.: Renoirs) Versuchen, Laiendarsteller, Originalschauplätze und Direktton zum Einsatz gelangen zu lassen. Realismus verhieß somit im Grunde zweierlei: Eine inhaltliche Entlarvung von gesellschaftlichen Zwängen, Repressionen, Missständen einerseits, eine formale, mimetische Wiedergabe der Milieus andererseits. Renoir freilich ist noch berüchtigt dafür, als einer der ersten neben Wyler oder Welles die Montage zurückgefahren und die Plansequenz etabliert zu haben: Für Bazin, den großen Realismus-Prediger der klassischen Filmtheorie, war es keine Frage, dass die Reduzierung von Schnitten einen größeren Realismus ermöchlichte.
Luchino Visconti nun arbeitete vor seinen – mit dem am 16. Mai 1943 uraufgeführten "Ossessione" beginnenden - Regiearbeiten als Assistent bei Renoir: Dessen "Toni" (1935) hatte vor allem großen Einfluss auf ihn gehabt. Er wird aber sowenig zum Renoir-Plagiator wie der Neorealismus zur Kopie des poetischen Realismus geriet: Der Neorealismus verzichtete etwa auf den Direktton, was sich aber wiederum auf die Beweglichkeit und Reichweite der Kamera und die Einstellungslängen auswirkte. Für Deleuze, den letzten der wirkmächtigen Filmtheoretiker des 20. Jahrhunderts, stand fest, dass der Neorealismus dergestalt das Aktions-/Reaktionsschema des klassischen Kinos durchbrach und die Moderne einläutete und die vielen neuen Wellen inspirierte: Einstellungen bauen sich nicht mehr in wechselseitiger Beeinflussung zu Sequenzen von innerer Logik und Dringlichkeit auf, sondern Einstellungen dehnen sich aus und stehen als Blöcke nebeneinander, in denen dann quasi das wirkt, was Zavattini einst als den "Fluss des Lebens" bezeichnet hatte. Zudem herrscht im Neorealismus nicht diese Spannbreite zwischen Poesie und Realismus, zwischen Romantik und Pessimismus, die man im poetischen Realismus immer wieder wahrgenommen hatte...
In "Ossessione" – dessen zugrundeliegender Roman James M. Cains dem künftigen Meisterregisseur Visconti von Renoir empfohlen worden war – ist das durchaus schon manchmal wahrzunehmen: Die Montage analysiert dem Publikum kaum noch etwas, die Ereignisse fließen gleichsam ungedeutet als Bewegung innerhalb der Einstellung, welche aber mitunter eine Sogwirkung entfaltet, die das pessimistisch-fatalistische Geschehen des Roman noir-Stoffes teils kongenial begleitet.
Hinzu gesellen sich die naturalistischen Details: Die schmutzigen Füße der Hauptfigur z.B., die sie zu Beginn in Großaufnahme in die Trattoria tragen, während Hunde um sie herumschnüffeln. Es gibt viele solcher Details, verbunden auch mit antifaschistischen Stoßrichtungen rund um die Figur eines Spaniers aus dem Bürgerkrieg: Die Anlagen des Drehbuchs wurden diesbezüglich gar nicht einmal ausgeschöpft, aber es reichte, um den Film nach seiner Uraufführung von der Zensur verbieten zu lassen. Dafür sorgte allein schon die Konzentration auf schmutzige Milieus und unkontrollierte Triebe. Es folgten (auch hierzulande) kürzere Stummelfassungen, bis dann Ende der 80er Jahre wieder die ursprüngliche 140minütige Version zugänglich gemacht worden war: In der Nachkriegszeit hatten die Alliierten den Film aus dem Verkehr gezogen, der sich nicht die Rechte am Roman gesichert hatte, später folgten in Italien und Deutschland Kürzungen, welche eine Neuauswertung lukrativer werden ließen.
Es ist natürlich keinesfalls verkehrt, "Ossessione" als frühes Beispiel des Neorealismus anzuführen, aber man sollte sich auch vergegenwärtigen, dass der Neorealismus an seinen Rändern durch höchst unterschiedliche Werke abgesteckt worden ist: Und der Kern des Neorealismus, das waren dann die dramaturgisch noch gelockerteren Werke wie Rosselinis "Paisà" (1946), Viscontis "La terra trema: Episodio del mare" (1948), De Sicas "Ladri di biciclette" (1948) und "Umberto D." (1952)...
Ein faszinierender, involvierender Streifen ist "Ossessione" aber bis heute geblieben, unabhängig davon, wie man zur Neorealismus-Debatte stehen mag. Wer auf die dt. Synchro Wert legt, kann kostengünstig zur Arthaus-DVD greifen (Fassungseintrag von sundancetrance), wohingegen die britische BFI-DVD über einen interessanten, manchmal etwas lückenhaften Audiokommentar von beachtlicher Qualität durch David Forgacs & Lesley Caldwell verfügt.
Mehr? Review von Bretzelburger

Details
Ähnliche Filme