Ein Bus setzt seinen einzigen Passagier Andreas an einer heruntergekommenen Raststätte mitten im Nirgendwo aus. Von dort wird er in eine nahe Stadt gebracht, wo bereits Unterkunft und Job auf ihn warten. Was das alles soll, weiß er nicht so wirklich, auch nicht, wie er dorthin gekommen ist, nur, dass ihn das distanzierte und eindimensionale Verhalten seiner Mitmenschen sehr irritiert. Entgegen den geordneten und unspektakulären Bahnen, die sein Leben hier nehmen kann und soll, sucht er immer weiter Wege, diesem Dasein zu entkommen.
Die norwegische Tragikomödie „Anderland“ besticht als surreale Mischung aus Dystopie, Fantasy und Gesellschaftssatire. Dabei wird viel Wert auf Details gelegt: Schon die allererste Szene überrascht mit einem Paar, das an der U-Bahn-Haltestelle steht und einen ebenso endlosen wie intensiven Zungenkuss austauscht. Bei genauerem Hinsehen stellt man jedoch fest: Beide haben die Augen geöffnet und wirken trotz des wahrhaft ausgiebigen Kusses distanziert und mechanisch. So geht es konsequent weiter: automatisierte Begrüßungen ohne jeden Ansatz einer Erklärung der seltsamen Situation, emotionslose Beseitigung blutiger Suizidaler, oberflächliches Gerede über Einrichtungsfragen, Freizeitaktivitäten und ähnliches. Jede Form von Emotion, ob positiv oder negativ, ob Klatsch, Gefühle oder Meinungen, ist entweder vollständig verschwunden oder auf ein abgerundetes Durchschnittslevel reduziert, mit dem man nirgendwo anecken kann. So geben auch die Frauen, mit denen Andreas irgendwann Beziehungen eingeht, stets nur schulterzuckende Antworten, wenn er sie nach ihren Meinungen und Gefühlen fragt (Höhepunkt hierbei ist eine der absurdesten Trennungsszenen der Filmgeschichte).
Dieses Gedankenexperiment einer automatisierten, gefühllosen Gesellschaft funktioniert über weite Strecken hervorragend, gerade weil es keine Erklärungen gibt. Es fällt ein wenig schwer, den Film klar als Dystopie zu kategorisieren, da er keine konkreten Hinweise auf die Entstehung oder den Zweck dieser Gesellschaftsform gibt, aber als dunkle Satire auf Spießbürgertum, strenge Anstandsregeln bis hin zu Gleichschaltung macht „Anderland“ durchaus Spaß. Dazu tragen immer wieder schräge Szenen, die durch die völlig irrealen Reaktionen der Agierenden hervorgerufen werden, und das monoton graue Setting bei, das die innere Leere der Figuren perfekt visualisiert: Alles hier ist sauber und ordentlich, aber eben auch leblos und ohne Identität. Selbst die anfängliche weite Landschaft, in der Andreas ankommt, passt sich dem farblich an. Das kann auf Dauer ein wenig eintönig wirken, soll ja aber eben genau einen solchen Effekt erzielen und dem Zuschauenden klarmachen, in welch geistige Einöde eine solche Gesellschaftsordnung führt.
Und so erweist sich „Anderland“ unter seiner abstrakt-surrealen Oberfläche als deutlicher Kommentar zu Gleichschaltungsfantasien konservativer und faschistischer Strömungen. Dass hier keine offene Gewalt gegen Andersdenkende regiert, macht die Szenerie beinahe noch unheimlicher: Störende Bemerkungen oder Handlungen werden schlicht ignoriert oder übergangen – herrlich die Szene, in der Andreas meint, er vermisse Kinder, die es hier einfach nicht gibt, und sein Kollege daraufhin wortlos das Büro verlässt. Als ganz und gar nicht passend erweist sich lediglich eine krasse Suizidversuchsszene in der U-Bahn, die in einem bizarren Splatter-Inferno mündet. Doch selbst diese seltsam entgleiste Sequenz findet immerhin einen grandios pointierten Abschluss.
„Anderland“ macht es dem Zuschauenden nicht leicht, bietet wenige Erklärungsmöglichkeiten (und lässt einige davon auch als falsche Fährte enden), fordert dafür das Interpretationsvermögen heraus und bleibt streckenweise vielleicht ein wenig zu unspektakulär. Insgesamt aber besticht er als groteske Satire auf geistige Engstirnigkeit und die Diktatur von Zucht und Ordnung. Ein Film, der die spießbürgerliche Geistesleere auf ihren hässlichen Kern herunterreduziert – eine spannende Versuchsanordnung!