Review

Selten hat mich ein Film derart unschlüssig, was ich denn nun von ihm halten soll, zurückgelassen wie CHACUN SA NUIT, der 2006 unter der Regie von Jean-Marc Barr und Pascal Arnold entstand.
Filme, die eine ménage à trois zum Thema haben, sind wahrlich nichts Neues. Dreiecksbeziehungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die gesamte Kunstgeschichte. Allerdings ist mir noch nie ein Kunstwerk untergekommen, das eine Fünfecksbeziehung thematisiert. CHACUN SA NUIT hat nun eine solche im Mittelpunkt seiner Geschichte. Fünf junge Menschen sind es, die einen heißen Sommer irgendwo in Südfrankreich verleben, vier Jungen und ein Mädchen. Alle sind sie attraktiv, lebenshungrig und sexuell und emotional miteinander verbunden. Zudem bilden die Jungs zusammen eine Rockband, die sich gerade durch vermehrte Auftritte in örtlichen Clubs einen Namen zu machen beginnt. Pierre ist der Sänger der Band und der Bruder von Lucie, dem Mädchen in der Gruppe, die die Band zu jedem Konzert begleitet, und in vorderster Reihe anfeuert. Lucie wiederum ist offiziell mit Sébastien liiert, was sie jedoch nicht davon abhält auch mit den anderen Jungs ihrer Clique, mit Baptiste und Nicolas, immer mal wieder Sex zu haben. Nicolas ist, wie Pierre, bisexuell, schläft jedoch nicht nur mit ihm, sondern zuweilen auch mit Lucie. Und schließlich haben selbst Lucie und Pierre wohl schon seit Jahren ein inzestuöses Verhältnis, das immer mal wieder in unerwarteten Zärtlichkeiten aufflackert. Die Clique wird als völlig frei geschildert, unabhängig von jedweden Moralvorstellungen oder Einschränkungen von Seiten der Gesellschaft. Die Eltern der Jugendlichen nehmen nur einen geringen Teil des Films eins, auch Eifersucht scheint innerhalb der Gruppe nicht die geringste Rolle zu spielen. Man schläft mit dem, auf den man gerade Lust hat, zwischendurch fährt man zum Schwimmen zu einem nahen See, sitzt im Bandproberaum herum, bereitet sich auf Konzerte vor, raucht Joints oder strolcht durch die wunderschöne Landschaft. Scheinbar sind gerade Schulferien: sie brauchen sich um nichts zu kümmern außer um sich selbst, doch wie jede Idylle ist auch diese nur von kurzer Dauer. Eines Tages kehrt Pierre, der einen Ausflug mit seinem Motorrad unternahm, nicht nach Hause zurück. Einige Tage später wird seine Leiche in einem Waldstück aufgefunden. Offenbar wurde er von einem oder mehreren unbekannten Tätern zu Tode geprügelt. Die Polizei tritt mit ihren Ermittlungen auf der Stelle. Pierres Tod und die Identität seiner Mörder bleiben ein Mysterium. Lucie, die schon immer ein besonderes Verhältnis zu ihrem Bruder hatte, der so etwas wie ein Seelenverwandter für sie war, vor allem nach dem tragischen Tod ihres Vaters, will nun auf eigene Faust herausfinden, weshalb Pierre sterben musste, wozu sie sich der Hilfe von Nicholas, Baptiste und Sébastien versichert. Sie sucht unter anderem einen Skinhead auf, den Anführer einer Gang, die in der Vergangenheit oftmals Streit mit der Band suchte, die sie wegen ihrer sexuellen Freizügigkeit und ihrer offen ausgelebten Bisexualität verabscheute. Doch der hat offenbar genauso wenig mit der Tat zu tun wie ein älterer Mann, den Pierre zuweilen zwecks homosexueller Orgien in dessen Haus besuchte. Sogar mit einem der ermittelten Beamten lässt Lucie sich auf eine Affäre ein, um sofort über alles auf dem Laufenden sein, was sich im Fall ihres ermordeten Bruders tut. Am Ende muss sie jedoch feststellen, dass die Auflösung des Falls eine wesentlich schrecklichere ist als sie sich jemals hätte vorstellen können… 

Von der Story her liest sich CHACUN SA NUIT wie ein Drama mit vereinzelten Kriminalfilmelementen, das einen klaren Anfang und ein klares Ende hat, in dem die Identität des oder der Mörder enthüllt wird. Allerdings erweist der Film sich in seinem Stil und seiner Machart als wesentlich konfuseres Werk, das ich ungemein anstrengend fand. Im Grunde wirkt CHACUN SA NUIT wie eine Ansammlung von Fragmenten: so, als habe man einen „normalen“ Spielfilm abgedreht, ihn danach zerstückelt und die einzelnen Bruchstücke mehr oder weniger assoziativ aneinander gereiht. Zwar bleibt immer ein halbwegs roter Faden, nämlich Lucies Suche nach der Wahrheit über den Tod ihres Bruders, zu erkennen, doch darum gruppiert sind Rückblenden, die nicht als solche gekennzeichnet sind, einzelne Szenen, die sich wohl einzig in Lucies Phantasie abspielen, sowie welche, die ich schlichtweg überhaupt nicht zuordnen konnte. Die meisten der Szenen sind außerordentlich kurz, was ihren Fragmentcharakter nur unterstreicht, und von vielen ist mir nicht klar geworden, was sie nun eigentlich inhaltlich aussagen sollten.
Erwähnen muss man, dass Sex einen zentralen Stellenwert innerhalb des Films hat. Verglichen mit den unzähligen Nacktszenen werden Lucies private Nachforschungen quasi nebenbei abgewickelt. Der Fokus liegt eindeutig auf der Clique selbst, dem Verhältnis der Mitglieder zueinander und den vielen sexuellen Eskapaden, die sie miteinander verbinden, sowohl in der Vergangenheit, noch mit Pierre in ihrer Mitte, als auch in der Gegenwart, ohne ihn. Wobei ich es anfangs außerordentlich schwer fand, die einzelnen Personen auseinanderzuhalten, da der Film ohne die geringste Einführung der Charaktere beginnt, einfach anfängt, sodass sich erst im weiteren Verlauf Zusammenhänge erschließen, und alles zu Beginn ein einziges Rätsel ist. Dass Pierre, Baptiste, Sébastien und Nicholas nicht nur ähnlich aussehen, sondern auch ähnlich auftreten, macht es dem Zuschauer nicht leicht, in den Film hineinzufinden und die Personen auseinander zu halten. Die vielen Nebenfiguren, von denen einige gar keine spezielle Bedeutung zu haben scheinen, irritierten mich genauso wie die chaotische Struktur des Films, die mich unschlüssig ließ, ob sie nun tatsächlich einen bestimmten Zweck erfüllt oder ob es den Filmemachern mit ihr vorrangig darum ging, den Kunstcharakter des Werks zu unterstreichen. Um es englisch auszudrücken: it’s a real mess. 

Was die meisten Zuschauer jedoch noch mehr abschrecken wird als die Art und Weise wie der Film seine Handlung schildert, ist die Handlung selbst, vor allem der Teil von ihr, der am meisten hervorsticht: Sex und Nacktheit. Viele stören wird wohl gerade das Inzestverhältnis zwischen Pierre und Lucie, das in Rückblenden offensichtlich wird, oder die Tatsache, dass hier quasi jeder mit jedem schläft. Mir haben gerade diese Szenen jedoch bestens gefallen. Alle Nackt- und Sexszenen haben etwas völlig Natürliches. Zu keinem Zeitpunkt rutscht der Film in eine pornographische Sicht ab und beobachtet seine Protagonisten mit lüsternen Blicken. In der Welt der Clique ist es vollkommen selbstverständlich, dass man sich voreinander auszieht, dass sich jeder zum andern hingezogen fühlt. Gerade in diesen Szenen hat CHACUN SA NUIT für mich sein ganzes Potential entfaltet, und wirkt wie ein wirklich freier Film, frei wie die jungen Menschen, deren Geschichten er erzählt, und geht mit seinen unzähligen Sexszenen genauso um wie mit allen übrigen. In den Szenen, die sich um Sex drehen, herrscht eine ausgelassene, ungezwungene, erotische Stimmung, die man am ehesten in Bertoluccis THE DREAMERS wiederfinden kann, obwohl das wiederum ein Film ist, der in eine ganz andere Richtung geht. Natürlich kann man CHACUN SA NUIT vorwerfen, dass er es mit dem Sex regelrecht übertreibt. Quasi jeder Darsteller ist nämlich mindestens einmal nackt zu sehen, die Helden des Films, die Clique, scheinenteilweise öfter nackt zu sein als angezogen. Mich hat es jedenfalls nicht gestört und ich bin froh, dass es solche Filme gibt, die ihre Protagonisten bei Sexszenen nicht hinter Betttüchern und Decken verstecken, die abblenden, wenn eine Hose fällt, oder sich, das andere Extrem, in Großaufnahme an den Geschlechtsteilen festsaugen, sondern die ein natürliches Verhältnis zur Sexualität haben, sie weder ausschlachten noch mit dem Tabu des Unsichtbaren, das nicht gezeigt werden darf, belegen. 

In seinen besten Szenen, und dazu gehören nicht ausschließlich die unbekleideten, schafft CHACUN SA NUIT es, eine eigenwillige poetische Sprache zu sprechen. So liegen einmal in einer Rückblende Lucie und Pierre zusammen im Bett und er fragt sie, wie schön er sei, worauf sie mit Beispielen antwortet, die ihm seine Schönheit vor Augen führen sollen und die Kühnheit eines Lautreamont besitzen. In einer anderen Szene hat Lucie alle Mitglieder der Clique an den Ort bestellt, wo man Pierres Leiche fand. Sie legt sich auf die Wiese und starrt zu den Bäumen hoch, die das Letzte gewesen sind, was ihr toter Bruder gesehen hat. Hier ist die Wirkung schier unbeschreiblich. Leider sind solche Kleinode meist mit Szenen umgeben, mit denen ich wenig bis gar nichts anfangen konnte. Vieles führt nirgendwohin, einige Handlungsstränge und Charaktere werden kurz aufgegriffen und dann scheinbar vergessen oder als nicht mehr wichtig erachtet.
Zum Ende kann man wohl stehen wie man will. Natürlich bedarf ein Film keiner Erklärungen, sondern kann fordern, dass jeder Zuschauer sich selbst seine Gedanken macht. Jedoch ist CHACUN SA NUIT ein Film, bei dem ich nicht mal weiß, wo ich mit meinen Gedanken beginnen soll. Das Ende und eigentlich alles, was davor geschah, ist derart offen, dass ich keine Ahnung habe, worauf der Film nun eigentlich hinauswollte. Soll die finale Aussage sein, dass jeder in uns, auch wenn er sich noch so sehr gegen gesellschaftliche Moralvorstellungen stellt, dennoch eine moralische Seele besitzt, die irgendwann einschreitet, wenn man ihr allzu sehr zuwiderhandelt? Oder führt das Fehlen von Moral in einer Gesellschaft, in der jeder mit jedem verkehrt, irgendwann dazu, dass die letzten Hemmschwellen fallen, und sich die Menschen allmählich zurück in Tiere verwandeln, ihrem Instinkt folgen, nicht mehr ihrem Verstand? Das hieße aber, dass CHACUN SA NUIT das Verhalten der Clique verurteilt, was so überhaupt nicht zu der Weise passt wie er ihre Rituale und ihre Organisation schildert.
Nein, CHACUN SA NUIT ist ein Film, der mich ratlos zurücklässt, jedoch kann ich mir gut vorstellen, dass andere mehr mit ihm anfangen und mehr aus ihm herauslesen könnten. Die Schauspieler, vor allem Lizzie Brocheré als Lucie, machen ihre Sache jedenfalls ausgezeichnet, und einige Sätze fallen, die es verdient hätten, dass man sie in einen Zitatschatz aufnimmt. 

Dass CHACUN SA NUIT von mir eine eher neutrale Wertung bekommt, liegt ausschließlich an den angeführten subjektiven Gründen. Auf jeden Fall ist es ein Film, den ich nicht so schnell vergessen werde.

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