La Seine a rencontré Paris (1957)
...A Valparaíso (1963)
Rotterdam-Europoort (1966)
Pour le Mistral (1966)
von Joris Ivens
Ohne die formal extravaganten Zügen des experimentierfreudigen Frühwerks Ivens' ("De Brug" (1928), "Bewegingsstudie van verkeer in Parijs" (1928), "Regen" (1929)), ohne die extrem ausufernden, frei mäandernden Assoziationen seines essayistischen Haupt- & Abschiedswerkes "Une histoire de vent" (1988) und ohne die offensichtliche politische Relevanz seines frühen, anklagenden "Borinage" (1934), seiner Kubafilme ("Carnet de viaje" (1961) & "Pueblo Armado" (1961)), seiner Arbeiten inmitten der 68er Bewegung ("Loin du Vietnam" (1967), "Le 17e parallèle: La guerre du peuple" (1968), "Le peuple et ses fusils" (1969), "Recontre avec le président Ho Chi Minh" (1970)) und natürlich seiner zwölfteiligen China-Reportage "Comment Yukong déplaça les montagnes" (1976) bleiben die poesievollen, leicht essayistischen Stadt-, Fluss-, Wind- und Hafenporträts Ivens' auf den ersten Blick etwas unscheinbar: geringere formale Radikalität, weniger kühne Gedankenspiele, kaum scharfe, anklagende Sozialkritik, dafür von allem ein bisschen... und dennoch zählen Filme wie "La Seine a rencontré Paris", "...A Valparaíso", "Rotterdam-Europoort" oder "Pour le Mistral" zu Ivens schönsten Werken, die vielleicht auch deshalb so wundervoll geworden sind, weil sie vergleichsweise wenig radikal anmuten und sich eine unaufgeregte, geruhsame Freiheit bewahren; es sind Filme, deren Montage und deren Kommentarspur bis ins kleinste Detail durchdacht worden sind, die aber zugleich wie freie, spontane Improvisationen anmuten.
"La Seine a rencontré Paris" steht am Anfang von Ivens schönen Porträtfilmen über diverse Flecken Erde (oder Flecken Wasser oder Luft) und findet schon zu Beginn die richtigen Bilder für den Tonfall dieses Films und späterer Filme: strömendes, rauschendes Wasser, in dem sich die Umgebung spiegelt. Die Reflexion und das Fluide, stets in sich Veränderliche, die in diesem Bild stecken (und Wasser & Wind in Ivens' Filmen bis zum letzten Werk begleiten werden), bilden den Ausgangspunkt für einen Film, der - wie Heraklit, jedoch in neuer Form - von der Bewegung im Statischen spricht und den Verlauf der Seine nutzt, um das Pariser Leben am Rande der Seine abzubilden. Ivens greift dabei durchaus auf Laien zurück, die als Statisten inszeniert werden, um die Bilder zu erzielen, die er gerade haben will: entlang der Seine, bis zum Eiffelturm und weiter, präsentiert er freie Natur, Fabriken, Stadtalltag, Schiffer bei der Arbeit, aus der Seine gezogenes Gerümpel, spielende Kinder, Angler, Liebende beim Kuscheln, Straßenkünstler beim Malen, Marktverkäuferinnen, Fotografen und Models, Studenten beim Lesen, Touristen bei der Rundfahrt, Badende, trinkende Clochards, Luxus, Elend, Geselligkeit, Einsamkeit, Muße, Freizeit, Arbeit, Notre Dame, Obelisk, Place de la Concorde, Eiffelturm, Sommersonnenschein, Regenschauer, Gewittereinbrüche, dunkle Nächte... der Kommentar weitet die Ränder dieses Films dabei noch etwas aus: Leichenfunde in der Seine wechseln in ihm mit hingebungsvollen Liebesbekundungen, der Père Lachaise mit dem Meer... diese Flussfahrt durch die - nicht in Kontrast zueinander gestellten - Unterschiede wird von einer mal lebhaft treibenden, mal gemächlich dahinfließenden Musikuntermalung M. Philippe-Gérards ("La vie est un roman" (1983), "Mélo" (1986)) gelungen unterstützt, doch die gesamte Mischung dieses Films folgt dem roten Faden, welchen die Seine durch Paris zieht, und nicht dem roten Faden der Idee, die Vielschichtigkeit des Stadtlebens & die Unterschiedlichkeit der Menschen einzufangen; diese passiert der Film, diese Eindrücke passiert die Seine bloß im Vorübergehen bzw. im Vorbeifließen. In erster Linie funktioniert Ivens' Film daher als Liebeserklärung an die Seine (und an Paris) - trotz der Gewissheit, dass es ein Fluss wie jeder andere ist -, als Bejahung des Lebens, trotz aller Unbequemlichkeiten, die es so mit sich bringt und trotz des unausweichlichen Endes, in welches es mündet. "La Seine a rencontré Paris" ist ein teils essayistisches, teils dokumentarisches Filmgedicht - mit Zeilen von Prévert ausgestattet! -, das seinen ersten Bildern der Reflexion und des Fluiden noch nicht in jenem Ausmaß gerecht wird, das viele der späteren Werke Ivens' aufweisen. Doch Originalität und Schönheit sind dem Film keinesfalls abzusprechen und 1958 wurde das Werk in Cannes als bester Kurzfilm ausgezeichnet.
7,5/10
In "...A Valparaíso" wird aus dem vom Flussverlauf diktierten Fluss der Bilder eher ein ozeanisches Verschwimmen der Eindrücke: Von der See über den Hafen in das Stadtinnere und wieder zurück in den Hafen, die Hügel hinauf und wieder herab und wieder hinauf, wobei Ivens manchmal bloß in einprägsamen Bildern präsentiert, wie die Brücken in Valparaíso mitten in der Luft enden oder die Treppen auf halbem Wege abbrechen. "...A Valparaíso" ist ein schillerndes, poetisches Kaleidoskop von Dokumentarfilm, dessen Abspann letztlich auch die Bilder eines tatsächlichen Kaleidoskops darbietet, untermalt vom Chanson "Nous irons à Valparaíso" (1811), welcher den Film bereits eingeleitet hat: Brandende Gischt, Nebelhörner, Dampfer auf hoher See, Valparaíso aus der Ferne, dann ein Feuerwerk im nächtlichen Hafen, "Nous irons à Valparaíso" setzt ein, Kinder feuern Knallfrösche & Raketen ab, Schiffe werden entladen - plötzlich bricht die Musik so schnell wieder ab, wie sie erklungen war. Ein Erzähler erinnert: Valparaíso war einst einer der reichsten Häfen überhaupt, vielfach besungen - doch nach dem Bau des Panama-Kanals ist der Stern Valparaísos stetig gesunken. Nun (d.h. 1962/1963) ist ein Valparaíso geblieben, das schön & schrecklich zugleich erscheint: während Valparaíso in Hafennähe noch als Handelsstadt funktioniert (wenngleich ohne den Glanz früherer Zeiten), zerfällt es landeinwärts in eine Ansammlung von Hügeln und Erhebungen, die durch Treppen und Aufzüge miteinander verbunden worden sind. Voller Faszination fängt Ivens dieses ungewöhnliche Stadtbild ein, dessen Aufzüge noch heute das Interesse der Touristen wecken: Kinder rutschen auf langen Treppengeländern talabwärts, ältere Herren sitzen in den Aufzügen, die wie kleine Hütten an den kleineren Häuschen vorbeiziehen, Matrosen steigen lange, gewundene Treppen bergab, welche im Zickzack-Kurs zum Hafen führen; es sind Bilder voller Faszination (die Technik), Herzlichkeit (das Spiel der Kinder) und Komik (der Abstieg der Matrosen, der in einer statischen Totalen präsentiert wird und die Personen wie Bestandteile einer Ameisenstraße ihren vorgezeichneten Weg zurücklegen lässt), die von heiterer Musik begleitet werden und genug Platz lassen, um Fassaden und Einwohner im Vorbeigehen einzufangen. Erst als der Erzähler verkündet, dass Valparaíso als Val paraíso das Tal des Paradieses bezeichnet und offen lässt, ob es das Paradies der Matrosen nach stürmischer, gefährlicher Fahrt bezeichnete oder doch eher den letzten Stopp vor dem Paradies, das sie nach missglückter (Ab)Reise erwartete, ändert sich der Tonfall, widmen sich die Bilder den Beerdigungen, den Leichenwagen und den Friedhöfen.
Das Leben und der Tod, das Erquickliche und das Unerquickliche, das Hoch und das Runter - welches Ivens immer wieder anhand der Treppen und Aufzüge ins Bild rückt - dringt in den Film. Scheint auf den Friedhöfen die Sonne, fängt Ivens sonnenbadende Damen in weißen Kleidern und Sonnenschirmchen ein, oder eine adrette Dame, die - vielleicht eine sonderbare Mode dieser Zeit und dieser Gegend, vergleichbar mit dem Ausführen von Schildkröten in Paris zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vielleicht aber auch nur ein schrulliger Einzelfall! - ihren Pinguin an der Leine spazieren führt; sonnendurchflutete Straßen mit spitzwinkligen und daher kaum vernünftig möblierbaren Häusern, mit ihren unfertigen Treppen und bergabrollenden Aufzügen folgen - und schon zieht es Ivens wieder zum Hafen und zum Meer, wo harte Arbeit auf die Menschen wartet und wo die Kamera Einflüsse der spanischen, französischen und britischen Kultur entdeckt. Gelangt er wieder bei Treppen & Aufzügen an, sind Beinamputierte und gebrechliche Greise zu sehen, welche die über hundert Stufen tagein & tagaus zurücklegen müssen, sind Kinder zu sehen, die sich die Aufzüge nicht leisten können (oder wollen) und die endlosen Stufen spielend & spielerisch meisten. Bizarr, amüsant, lächerlich, seltsam und faszinierend zugleich, staunt der Erzähler, der ebenso beiläufig das Malerische dieser sonderbaren Aufzüge betont, wie sich die Kamera von einem Hund ablenken lässt, der neben diesen Beförderungsmitteln in der Landschaft sitzt. Er kehrt zwar zurück zu den Treppen & Aufzügen, spricht über die beschwerlichen Transporte von Wasser und tonnenweise Fischen, kommt aber zum Ausgleich auf die Tanzlokale & Bars zu sprechen, wo das Vergnügliche auch mal in eine Schlägerei umschlägt; findet Ivens das Schöne, präsentiert er sogleich das Unschöne, trifft er auf das Schreckliche, eilt er bald zum Erbaulichen - das Unterschiedliche liegt eng beisammen in der Realität und auch in diesem Film, der sich im Klaren darüber ist, dass der starke Wind auf den Hügeln Valparaísos zwar die Wäsche schneller trocknen lässt, zugleich aber auch die Gesundheit der Kinder schnell beschädigt.
Die Flucht in die Vergnügungen (Tanz, Zirkus, Pferderennen), die Flucht in die Nostalgie, welche in Valparaíso mit seiner langen & interessanten Geschichte - Piraterie & Kolonialismus, enormer wirtschaftlicher Erfolg & kulturelle Bedeutsamkeit! - besonders ausgeprägt zu sein scheint, die Angepasstheit der Einwohner an die alltäglichen Strapazen in bildschöner Umgebung und das politische Engagement, das die Mitglieder eines Bürgerrats an den Tag legen, um etwa die Wasserversorgung zu verbessern, behandelt "...A Valparaíso" daher gleichermaßen, um den vielschichtigen Situationen vielschichtige Reaktionen folgen zu lassen. Am Beispiel des Pferdes, das zunächst beim Pferderennen Erfolge garantiert, Jahre später Lasten über die langen Treppen schleppt und letztlich dem Pferdemetzger auf einem der Hügel zugeführt wird, fasst er das Auf & Ab, die Erfolge & die Strapazen und das unausweichliche Ende in aller Kürze nochmals zusammen: ein wenig zu formelhaft womöglich.
Nach knapp 20 Minuten (von insgesamt knapp 27 Minuten) nimmt "...A Valparaíso" dann eine unerwartete Wendung: in einer - übrigens inszenierten - Kneipenschlägerei zerbricht ein Spiegel, das bisherige s/w geht in Farbe über, die Bilder der Spiegelscherben weichen dem Blick durch ein Kaleidoskop, Blut spritzt an die weiße Kneipenwand, das Blut wird zum dritten Element der Stadt (nach Wasser und Wind) erklärt und es folgt ein Abriss der temperamentvollen Geschichte der letzten drei Jahrhunderte Valparaísos, mit all ihren Plünderungen, Unterwerfungen, Folterungen, Naturkatastrophen. Die ganze Pracht der Stadt zieht nochmals in Farbe am Betrachter vorbei, das für die Erschwernisse und Strapazen geschärfte Auge des Publikums darf sich noch am Drachenflug eines Wettbewerbs und an einer Hochzeit ergötzen, ehe "Nous irons à Valparaíso" schließlich in den Abspann überführt.
Das Gegensätzliche liegt eng beisammen, das betrifft Schönes & Schreckliches ebenso, wie Bedeutsames & Unbedeutsames. Nicht nur die - von Chris Marker verfasste und damit geradezu zwangsläufig herausragende - Kommentarspur lenkt den Blick auf dieses ganz natürliche Nebeneinander, sondern auch die Kamera (Georges Strouvé) und der Schnitt (Jean Ravel): Ohne allzu experimentell zu geraten wählt sich Ivens Perspektiven, die das Ungewöhnliche und das Charakteristische der Sehenswürdigkeiten und Eigenarten dieser Hafenstadt hervorheben oder auch erst sichtbar machen, um es dann sogleich wieder natürlich & integriert erscheinen zu lassen. Das Gestellte und das Ungestellte, das Schwarz-weiße und das Farbige, die Musik, der Lärm und die Sprache sind ebenfalls künstlerischer Ausdruck dieses Nebeneinanders: informativ, sinnlich, humorvoll, einfühlsam und sensibel beobachtend und alle Eindrücke klug verwebend ist "...A Valparaíso" nicht bloß ein Augenschmaus - und schon gar keiner aus der Exotik- & Tourismus-Branche! -, sondern ein Augen-, Ohren-, Herz- & Hirnschmaus gleichermaßen, der die Latte für Porträtfilme enorm hoch gelegt hat. Nicht viele Beiträge aus dem Dokumentar- & Essayfilm-Sektor haben dieses Niveau seitdem erreichen können.
9/10
"Rotterdam-Europoort" fällt dann wenig später nochmals eine Spur radikaler aus: Rotterdam(-Europoort) wird als gut geschmierte Maschine vorgeführt: so bricht etwa in allen Wohnzimmern hinter der Glasfassade eines riesigen Mehrfamilienhauses um Viertel nach Neun dasselbe Gelächter aus - Jacques Tati wiederholt diesen Gedanken im Folgejahr im hervorragenden "Playtime" (1967)! - und ein Helikopterflug über Industriegelände präsentiert ein schier endloses, systematisch geordnetes Heer aus Schloten & Metallrohren, während in einer riesigen Halle Fließbandarbeiter Fließbandarbeit verrichten, derweil sich der Erzähler fragt, woran man bei solcher Arbeit wohl den gesamten Tag denken mag... (Drei Jahre später wird Ivens engagiert das Filmkollektiv Groupe Medvedkine französischer Arbeiter unterstützen.) Aber Glück sei ja auch bloß ein Wort, eine Stadt hingegen ein Werkzeug. Man merkt sehr schnell, dass Ivens nicht viel übrig hat für den größten Hafen Europas - damals sogar seit vier Jahren der weltgrößte Hafen! - mit seinem riesigen Industriegebiet, der hier in kühlen Grau- & Blautönen und in Totalen gigantischer Fabrikhallen und Baustellen präsentiert wird - und so rettet er ein wenig von der Vergangenheit in die Gegenwart hinein, die zwar weniger schön als die Vergangenheit, aber immerhin lebendig ist und deren Wichtigkeit die Wichtigkeit der Vergangenheit noch übertrifft: fortan zeigen sich Industriegebiet und Baustelle - bisweilen kontrastiert mit Archivaufnahmen der knapp 20 Jahre zuvor zerstörten Gegenden! - hinter den Denkmälern historischer Persönlichkeiten (wie z.B. Erasmus von Rotterdam), fortan durchfluten große Umzüge die Straßen und fortan tritt vor allem ein Mann in Erscheinung, der gut 300 Jahre auf Achse war - der Fliegende Holländer. Schon zu Beginn des Films ist er im Motorboot dem Hafen entgegengefahren, zwischendurch versetzt er zwei Arbeiter in Panik und liefert sich ein Gefecht mit Kindern während ihrer Piratenspiele: Der Dichter, Sänger, Bildhauer und Grafiker Carel Kneulman - dessen Skulpturen im Film teilweise auch zu sehen sind - agiert in "Rotterdam-Europoort" als Fliegender Holländer. Er irrt umher, sichtlich unbeeindruckt von der modernen Welt und vom Trubel um ihn herum; er steht lieber auf dem Deck verrosteter Tanker, besucht Fußballspiele und dringt in die Oper ein - wo er sich über die ständigen Verbote empört, als man ihm den Zutritt verwehren will... und wo er von der Darstellerin der Senta aus Wagners Opernversion des Fliegenden Holländers als Double des Hauptdarstellers (v)erkannt wird. (Willeke van Ammelrooy gibt in dieser Rolle übrigens ihr Filmdebüt.) Doch die zarte Andeutung einer Liebesgeschichte geht im Gewimmel der Hafengegend unter: die Frau folgt dem fremden Mann, findet ihn in der riesigen Menschenmenge jedoch nicht; und der Fliegende Holländer - sich etwas verfolgt und unwohl fühlend - entzieht sich dem ganzen Trubel wieder und macht sich am Ende per Drachenflieger davon. Zweifelsohne steckt in ihm ebenso viel von Joris Ivens wie auch im Kommentar des Erzählers, welchen das Auftauchen des Fliegenden Holländer fast so sehr irritiert, wie das Publikum... zugleich ziehen hunderte Arbeiter - zu Fuß oder auf dem Rad in endlose Schlangen gereiht - ihrer Arbeit entgegegen. Nur gelegentlich scheint Platz zu sein für eine einzelne Hochzeit eines jungen Paares in Rotterdam oder für einige Teenager, die sich aufmachen, um im Kino Lesters "The Knack ...and How to Get It" (1965) & Lesters "Help!" (1965) zu sichten...
Wer einen Dokumentarfilm erwartet, wird sicherlich arg irritiert sein von "Rotterdam-Europoort", der sich vor allem am Ende in die Gefilde des Spielfilms und der Fantasie begibt: Ivens gleicht hier jedoch nicht bloß die Nüchternheit, Sterilität, Zweckhaftigkeit und Berechnung aus, die um ihn herum herrscht, sondern er greift zum Einen auch den niederländischen Künstler Kneulman auf, dessen Verarbeitung des Zweiten Weltkriegs hier unterschwellig als Alternative zu den Aufbau- & Wachstumsbemühungen der Industrie dargeboten wird - wobei Ivens Letztere gegen Schluss zum breughelschen Turmbau zu Babel geraten lässt -, und zum Anderen auch - sehr subjektiv, autobiographisch und womöglich leicht egozentrisch - die eigene Rolle des neugierigen, unkonventionellen Rumtreibers, der seiner Heimat den Rücken zuwendet.
"Rotterdam-Europoort" ist ein sehr persönliches, ungebändigtes, fantasievolles Porträt Rotterdams, seines Hafens und dessen Europoorts, zugleich ein sanft verschleiertes Autoporträt des Filmemachers, der hier den Untergang des Individuums in einer von Fernsehen & Arbeit geprägten Menge behandelt, dessen Abbildung - obwohl nicht inszeniert - teilweise an die Satire "Themroc" (1973) erinnert. Von allem gibt es ein bisschen in diesem Film: ein wenig Stadtalltag, ein wenig Hafenalltag, Industriegebäude, Kinos, Opern, Fußballspiele, Nostalgie, den Zweiten Weltkrieg... von Ivens Vorlieben & Abneigungen erfährt man jedoch am meisten. Entsprechend unentschlossen und ratlos fielen manche Kritiken aus, während Ivens selbst über kaum einen seiner Filme weniger Worte verloren hat, als über diesen. Fans des Essayfilms bekommen hier in jedem Fall ein ungemein kreatives & persönliches Werk zu Gesicht, dessen Form frisch, roh & vital anmutet: Grobkörniges, Handkamera, Archivaufnahmen, Bühneninszenierungen, Farbe, s/w, Unschärfe, schnelle Schnitte... all das lässt die 20 Minuten wie im Flug vergehen.
8,5/10
"Pour le Mistral" greift direkt danach auf "La Seine a rencontré Paris" zurück - und dennoch stellt der Film keinesfalls einen Rückschritt dar: zwar sind die zuvor immer freier entwickelten Assoziationen nun wieder an einen festen Kurs gebunden, dieser wird jedoch nicht mehr von einem festen und gut sichtbaren Flussbett vorgegeben, sondern vom Wind selbst, von einem der unsichtbarsten aller denkbaren Motive. Dem Wind, dem Ivens zum Lebensende hin mit "Une histoire de vent" eine eigene Geschichte zukommen ließ, nähert er sich hier erstmals an - mit dem vergleichsweise harmlosen Versuch, den Weg des Mistrals nachzuzeichnen: Der durchs Rhônetal gen Mittelmeer wehende Wind wird eingefangen anhand der Gräser, der Sandkörner, der Zweige, der Haare, die er passiert, anhand der Wolkenformationen, die er mit sich bringt, anhand ihrer Schatten, die über die Landschaften ziehen, anhand der Gebiete, die er überquert, anhand der Kamerabewegungen, -geschwindigkeiten, der Schnittfrequenz, des Bildformats, die seine Dynamik nachstellen.
Doch immer wieder nimmt der Film auch die Umgebung, über bzw. durch welche der Mistral weht, genauer unter die Lupe: freie Landschaften, verfallene Ruinen, einfache Dorfgegenden, größere Städte, den Alltag der Bewohner. Das soziale Anliegen tritt in diesem Film insgesamt aber wieder deutlich zurück... als Arbeit am freien Ausdruck, am Versuch, etwas mehr oder weniger Unsichtbares sichtbar werden zu lassen, stellt "Pour le Mistral" jedoch einen Fortschritt dar: denn anders als in "La Seine a rencontré Paris" geht es nicht darum, einer sichtbaren Route zu folgen, deren Marksteine und Alltäglichkeiten man einzufangen gedenkt, sondern es geht darum, eine vorhandene Route überhaupt erst sichtbar zu machen. Auf geradezu avantgardistische Weise - und selbst mittels freeze frames - ist der Film um eine Vermittlung von Bewegung bemüht, dabei angereichert mit zahlreichen Fakten über den Mistral und einigen Episoden aus dem Leben in diversen Gebieten, wobei Ivens von der Möglichkeit Gebrauch macht, frei zwischen den Jahreszeiten zu changieren und sich beliebig heruntergekommenen Elendsvierteln, christlichen Prozessionen, studentischem Schabernack zu widmen, Menschen & Landschaften mal aus der Ferne und mal im Detail zu schildern - mal unter leicht soziologischem Gesichtspunkt, mal aus rein zwischenmenschlichem Interesse heraus! - und vielfach die Reaktionen der Menschen auf den wehenden Wind einzufangen. Durch den Versuch, eine (vorhandene, aber kaum sichtbare) Bewegung sichtbar zu machen, nehmen Notwendigkeit & Dichte der assoziativen Zusammenhänge & Sprünge ab, nimmt die Verkettung der Eindrücke auf inhaltlicher Ebene ab, während die Verkettung der Eindrücke auf ästhetischer Ebene hingegen zunimmt. Wer den politischen Ivens bevorzugt, wird - wie Ivens selbst ab etwa 1967 - nicht so recht glücklich werden mit diesem Film, wer hingegen eher den avantgardistischen Ivens schätzt, wird mit diesem Porträtfilm sicherlich seine Freude haben.
8,5/10