"Scarface" gehört zweifellos zu den Klassikern des Gangsterfilms, seinen Status hat er durchaus verdient. Dennoch ist De Palmas viel umjubeltes Werk bei weitem nicht makellos, was ich vor allem dem Regisseur selbst, aber auch Drehbuchautor Oliver Stone ankreide. De Palma zitiert hier ausnahmsweise mal nicht Hitchcock, möchte aber dem Film deutlich seinen Stempel aufdrücken, was zahlreiche außergewöhnliche Kamerafahrten verdeutlichen. Das ist zwar von der experimentellen Seite her interessant anzusehen, zieht das Ganze aber unnötig in die Länge, wo doch "Scarface" eher actionlastig sein soll. Das ist er erfreulicherweise doch stellenweise, vor allem die oft erwähnte Schlussschießerei hat es in sich. Noch berühmter ist die "Kettensägen"-Szene, die De Palma in den USA beinahe ein X-Rating eingebracht hat, obwohl man selbst in der ungekürzten Fassung herzlich wenig graphische Gewalt zu sehen bekommt. Die Vorstellung macht's hier aus, was selbst heute noch schockiert. Übrigens geizt "Scarface" auch nicht mit übelsten Schimpfwörtern und heiklen Themen wie Inzest, was das Ganze etwas schwer verdaulich macht.
Kurzweilig ist die Sache auf jeden Fall, trotz oben angesprochener Regiemängel. Besonders angetan hat es mir die wahnsinnig gute Atmosphäre, die so richtiges 80er-Jahre-Feeling aufkommen lässt. Geschmackssache ist der Synthesizer-Score von Giorgio Moroder, mir hat er gut gefallen. Wer auf die Optik klassischer Gangsterfilme verzichten kann, darf hier über das sonnendurchflutete Miami und prächtige Innenkulissen staunen.
Nicht zu vergessen die One-Man-Show des Al Pacino, der hier kein Schauspieler, sondern Tony Montana selbst zu sein scheint. Eine Riesenleistung seinerseits, da gehen die tollen Nebendarsteller, u.a. Michelle Pfeiffer, Mary Elizabeth Mastrantonio, Robert Loggia und F. Murray Abraham fast ein wenig unter.
Die Atmosphäre könnte also perfekter nicht sein, die Schauspieler sind der Wahnsinn. Was jetzt noch fehlt, wäre halt eine wirklich mitreißende Story, und die hat "Scarface" meiner Meinung nach nicht. Natürlich kann man sich wunderbar in die Lage Tonys und den Film hineinversetzen, aber wer im Genre nur ein bisschen bewandert ist, hat keine Probleme, bald festzustellen, welche Charaktere hier zwangsläufig ins Verderben laufen. Selbst Vorahnungen, dass das Geschäft mit Drogenmogul Sosa und die Ehe mit Elvira platzt, bewahrheiten sich. Sind jetzt nur zwei Beispiele, doch von Solchen Sachen ist der ganze Film durchzogen.
Alles in allem ein Film zum "drin versinken", atmosphärisch locker auf einer Höhe mit Meisterwerken wie "GoodFellas" oder "Casino". Das macht es umso ärgerlicher, dass De Palma und Stone hier nicht zu ihren gewohnten Leistungen imstande waren, wodurch "Scarface" für Freunde actionreicher und direkter Gangsterfilme, sowie für Pacino-Fans ein absolutes Muss ist, es aber insgesamt nur zum Prädikat "äußerst empfehlenswert" reicht.