Deutschland. Sommer 2006. War da was? Ja. Sönke Wortmann will es uns noch einmal zeigen. Oder will er nicht? Ich bin mir unschlüssig. Das liegt daran, dass er uns in eine Kamera verwandelt, in eine Panasonic DVX 100. Wir das Objektiv und, wie es beim DSF heißen würde, mittendrin statt nur dabei, luschernd in der Dusche unserer halbnackten Helden. Da! Der Lehmann! Fast nackt. Das ist es nun wirklich, was mich schon immer mal interessierte. Und dort! Der Klinsi und der Andi! Wie sie Tischtennis spielen!
Als Kamera verbleiben wir im Zustand dieser und der generellen Beobachtung. Und was wir beobachten, das ist etwas, das selbst einem Kreisligaspieler so fremd nicht ist. Dies zumindest ist eine Erkenntnis, die sich aus Wortmanns Dokumentation schließen lässt: Unsere Nationalkicker - blenden wir einmal den Luxus, der sie umgibt, aus - die sind ja im Grunde wie wir. Die trainieren, die schwitzen, die spielen auch nur Fußball. Und der Klinsmann, der kocht ebenso nur mit Wasser. Hinter dem schwäbischen Esprit, der kumpelhaften Rhetorik und den Klinsi-Stimmbändern, die stets von einer Klippe zu stürzen scheinen, da verbergen sich Parolen, wie sie ein jeder Dorftrainer kennt.
Wir also sind die Kamera, übrigens nicht die schärfste, und mitten im Fußballerbiotop. Wir stecken überdies in einem ganz besonderen Organismus, doch wir blicken nicht hinein. Jedenfalls nicht tief genug. Zuweilen ist es ja ganz interessant, die Akteure einmal außerhalb des Rasens zu sehen oder sogar einigen ihrer bedeutungsvolleren Gedanken zu lauschen (man denke an den enttäuschten Thorsten Frings), und auch ganz wundervoll, den Jürgen Klinsmann zu beobachten, wie er selbst beobachtet, seine Schäfchen nach der Ansprache, und freilich wie er vielmehr noch - das verrät sein Gesicht - dem Augenblick eine Bedeutung verleiht, wie er dessen Herrlichkeit genießt, ganz still, ganz sympathisch. Jedoch als Blick hinter die Kulissen, ins wahre Innenleben einer Fußballmannschaft mit all ihren Spannungen, dafür ist Wortmanns Beobachtung doch nicht ernsthaft zu gebrauchen, oder? Dieses ist ein ganz und gar gediegenes Popstück, ein nettes Urlaubsvideo fußballspielender Backstreet Boys. Das kann man sich mal anschauen.
Aber war es tatsächlich nur das, was Sönke Wortmann wollte? War da nicht noch was? Wenn wirklich nur dies sein Anliegen war, warum sehen wir dann eine WM-Doku, die sich "Deutschland. Ein Sommermärchen" nennt? Ein Titel, der sich auf Heinrich Heine beruft. In "Deutschland. Ein Wintermärchen" skizziert Heine das Deutschland, das fröstelt unter den Zensoren und restaurativen Kräften. Sein Wintermärchen ist politische Satire, sein Titel reine Ironie. Sönke Wortmanns WM-Doku ist weder satirisch, noch ironisch. Warum also dieser Werkbezug? Warum dieser Titel? Weil er schön klingt? Oder weil da nicht doch noch irgendetwas war?
Ja, da war doch irgendwas mit Deutschland. Am 04.10.2006 schrieb Kathrin Passing in der Schweriner Volkszeitung von einem "während der WM sichtbar gewordenen postpatriotischen Partyotismus". Party und Patriotismus glücklich und harmlos vereint. Aber was ist hier? Wo ist das Sommermärchen? Wo sind die unvergesslichen Momente? Auf dem Fußballfeld sehe ich nur ein paar spektakuläre Zweikämpfe, ästhetisch aufbereitete Tacklings und nicht zuletzt Tore, beiläufig, allerdings schulmäßig und formvollendet montiert; dazu erklingt leise, kunstvolle Musik. Beispielsweise das Stück "Von Costa Rica nach Ecuador" von Marcel Barsotti. Schön war das, auch wenn es - wie eigentlich alles von ihm - stark, aber ganz stark, an Thomas Newmans "American Beauty"-Soundtrack erinnerte. Bei solchen Klängen, da horcht man in sich hinein, da verschwindet die Welt um einen herum; es sind genau die richtigen, um eine Tüte musikalisch zu untermalen, die da bloß so herumfliegt im Wind. Doch möchten wir das Hören, um die Augenblicke wiederaufleben zu lassen, in denen wir uns die Seele aus dem Leib brüllten und vor Freude unser Bier verschütteten?
Wo ist die Stadionatmosphäre, wo die Gänsehaut, wo sind die Schlachtgesänge? Ja wo ist das Märchenhafte? Hat sich die Seele der Republik nicht seinerzeit gewünscht, dieses neu entdeckte Lebensgefühl der Deutschen möge noch lange nachhallen? Dieser Film war die Chance, die Chance, den surrealistisch anmutenden Wahnsinn und Zeitgeist des (fast) sorgenlosen Optimismus unsterblich werden zu lassen. Doch dieser Film nun ist nicht mehr als eine kleine Sandbank im Verdrossenheitsmeer des zurückgekehrten Alltags. Und wenn die zauberhaften WM-Tage jenes Sommers dennoch wieder spürbar werden, dann nicht, weil sie der Film selbst wieder lebendig macht, sondern weil beim Betrachten von WM-Bildern unweigerlich jeder seine persönlichen Erinnerungen abruft.
Von dieser Dokumentation aber, die sich „Deutschland. Ein Sommermärchen“ nennt, war mehr patriotischer und multikultureller Mut zu erhoffen. Mehr Verklärung, mehr Überhöhung. Denn nur so hätte sie dem gerecht werden können, was da wirklich los war, im Sommer 2006, in Deutschland: Deutsche, die nicht nur den Text ihrer Nationalhymne beherrschten, sondern die auch zu afrikanischen Rhythmen tanzten. Deutsche, die mit Türken und Türken, die mit Deutschen feierten und überhaupt: jeder mit jedem. Die Mauer war ja nicht nur ein zweites Mal gefallen, Deutschland nicht nur wieder-wiedervereinigt, nein, die ganze Welt wuchs hier zusammen zu einer Gemeinschaft. War nicht dies das Sommermärchen, das globale Wir-Gefühl, die zu spürende Weltseele? Und wenn nicht das, dann wenigstens die deutsche Euphorie, die Ekstase? An ein paar Polizisten, die am Straßenrand eine La Ola zelebrieren, zipfelt sich Wortmann und an die ein oder andere Menschenmasse. Doch selbst dann spüren wir nicht den Geist dieses Sommers, sondern sehen nur Groupies, die wiederum Backstreet Boys abfeiern. Und dies, weil wir immer nur eine Kamera bleiben.