Hier ist ein neues Deutschland: vibrierend, jung, anarchisch, brillant. So titelte die britische „The Sunday Times“ in einer Ausgabe während der Zeit, die Regisseur Sönke Wortmann für seine Dokumentation sinnbildlich ein Sommermärchen nennt. Die WM 2006 im eigenen Land. In der Tat, treffender könnte ein Titel nicht wählen. Es war die Zeit des Erwachens, ein Land wurde nach vorhergehender wirtschaftlicher Depression lebendig, Jammerei wich der märchenhaften Freude, die Vibrationen auslöste. Eine Nation legte Klischees ab, war wieder Stolz auf das eigene Land, ohne dass dabei jemand den historischen Zeigefinger hob, weil man auch von außen deutlich sah: die Welt ist zu Gast bei Freunden.
Das Ausland sah und bewunderte es. Die frische Dynamik, tosende Stadien, deren Geräuschkulisse fulminante Dimensionen erreichten. Es lag ein Gefühl von Anarchie, der Freiheit des Feierns in der Luft, ohne dass Chaos herrschte. Allerorts legte man die Ellenbogenmentalität ab, Innenstädte wurden zu Partymeilen. Zeit und Raum wurden egalisiert, die Sache betäubte jegliche Hemmungen. Trotzdem wurden alte Werte, wie Loyalität im Zuge der Begeisterung reaktiviert und zum Selbstläufer. Fahnen wehten als symbolischer Ausdruck von Zusammengehörigkeit und Solidarität für ein Team, das zum Identifikationsobjekt wurde. Es wurde gefeiert, wie man es den Deutschen nicht zugetraut hätte.
Es ist schwer den Sommer 2006 zu beschreiben, das Greifbare ist immer noch unbegreifbar. Sönke Wortmann erfasst mit dem Titel seiner Dokumentation den Zustand, in dem sich ein Land befand und schrammt dennoch am Thema vorbei. Er kratzt nur an der Oberfläche, auch wenn er sich formal im Kern befindet. Der Regisseur ist mittendrin im deutschen Team und hält mit der Handkamera intime Momente fest. Es ist zweifelsohne interessant zu sehen, wie die Mannschaft das möglich machte, was sich auf den Straßen abspielte, aber das Material ist für jeden, der live vor, in und außerhalb der Stadien mitfieberte, eher nüchtern interessanter Stoff. Klinsmann entpuppt sich als sympathischer Motivationskünstler, während Löw mit taktisch fachlicher Finesse glänzt. „Schweini“ und „Poldi“ sind die Spaßvögel im Team und Lehmann hinterlässt einen gediegenen, ruhig intelligenten Eindruck. Im Allgemeinen sind die Impressionen durchaus interessant, weil die eigene Vorstellung mitunter eines Besseren belehrt wird.
Emotional bewegt man sich aber auf kaltem Gebiet. Dabei ist es doch genau das, was der Betrachter sehen möchte. Ein Revival dieser wunderbar märchenhaften Zeit, die man vermutlich nur einmal im Leben so intensiv erleben durfte. Das Problem ist: Wortmann hat es gar nicht miterlebt, das Feiern bis tief in die Nacht, überall an jedem Ort. Er spielt, mit Ausnahme des Polenspiels, nicht einmal den originalen Torjubel in den Stadien ein. Chronologisch nähert man sich nüchtern dem Ende, als Italien das Märchen beendete und man trotzdem Stolz auf dieses Team sein konnte. Wenige Momente vermitteln den Eindruck dieser Energie, die Massen mobilisierte.
So wird jene Zeit, die gefühlsmäßig nie enden hätte sollen, genau zu dem was sie jetzt ist. Ein Stück Vergangenheit, die von eigenen Erinnerungen lebt. Wortmann liefert hintergründiges Bildmaterial, aber märchenhafte Stimmungen lässt er dadurch nicht aufleben. Der Titel verspricht mehr, als die Dokumentation bietet. (5/10)