Wut (2006)
Da Lei Li die Story schon ausgiebig beschrieben hat, spare ich mir das jetzt einfach mal. Was ich in den meisten und insbesondere der (schauderhaft deutschtümelnden) Diskussion unmittelbar nach der Erstausstrahlung in der ARD vermisst habe, war ein fettes Lob für den ersten ernstzunehmenden Film, der wirklich mal einen Finger in die offene Wunde zum Thema Integration in Deutschland gelegt hat. Denn das ist alles, was der Film wirklich deutlich machen wollte: das Versagen derselben. Und da blicke ich dann auch etwas versöhnlicher auf einige kleinere Logikfehler. Die ganze Jugendkriminalitäts-Geschichte scheint überhaupt nur Mittel zum Zweck gewesen zu sein, das Problem einer vermeintlich liberalen Mittelstandsfamilie aufzuzeigen, deren in der 68er-Bewegung hart (und natürlich zurecht) erkämpfte Werte vollkommen versagen, die mittlerweile unfähig geworden ist, sie neu zu formulieren und damit genauso borniert geworden ist, wie die Generation, der sie sie damals abgerungen hat. Gegen jemanden wie Can ist selbst mit der vernünftigsten und intelligentesten Rhetorik nichts mehr auszurichten und egal wieviele Bücher der Bildungsbürger noch lesen wird - er wird auf eine Mauer aus Hass und Unverständnis stoßen. Zwei Welten prallen aufeinander und plötzlich funktioniert keine der beiden mehr ausreichend. Weder Cans mit seiner Proll-Attitüde und der sich im Auflösungsprozess befindlichen, traditionellen Kultur seines muslimischen Großvaters im Hintergrund, noch die feige, verlogene, aus unzeitgemäßen und falschen Idealen zusammengesetzte Welt des Professors, der vor lauter gelehrsamen Worten seine Umwelt nicht mehr richtig wahrzunehmen imstande ist. Das in der Filmlandschaft wirklich seinesgleichen suchend Schöne an diesem Film, ist, dass man mitbekommt, wie beide Welten sich gegenseitig ergänzen könnten, denn jede Welt bietet das der anderen fehlende Gegenstück. Die mit deutschstämmigem Hintergrund könnten alle ein gutes Stück mehr Lässigkeit, Groove und Mumm gebrauchen, die mit türkischstämmigem Hintergrund bräuchten ein bisschen mehr Ernst und Versteiftheit. Es kommt auch zu ein paar kurzen Momenten der Berührung, trotzdem springt der Funke nicht richtig über, bleiben die Grenzen geschlossen. Man misstraut einander, kommt nicht weiter, der Stillstand bringt am Ende alles auf den kleinsten Nenner, löst alles in stumpfe Gewalt auf. Beide Welten haben versagt.
Es ist ein bisschen schade, dass die (vermutlich angepeilte) typisch "deutsche" Familie ein bisschen zu reich ist, um genug Identifikationspotenzial zu entfalten. Auch hätte ich mir die Zeichnung der Figur des Can etwas weniger klischeebeladen Gangster-mäßig vorstellen können und dafür mehr die emotionalen Konflikte der Figur, die Seele herausgearbeitet gesehen. Dafür gab es schauspielerisch absolut nichts zu bemängeln - jeder einzelne Darsteller war hundertprozentig glaubwürdig und ist perfekt in seiner Rolle aufgegangen. Und wirklich genial ist die Rede von Can gegen Ende des Films, als er dem an die Grenzen der Toleranz gestoßenen und geradezu rechtsradikal polemiesierenden Professor (sinngemäß) ins Gesicht brüllt: "Ich bringe dir hier deine heile Welt durcheinander aber du kriegst mich hier nicht weg! Ich bin auch Deutscher!"
Ein sehr guter, wahrer Film der das Integrationsproblem vor allem als ein gegenseitiges zeichnet, eines, das nicht wirklich durch Gesetze vorangebracht werden kann, sondern das die Menschen auf der Straße tagtäglich ein bisschen mehr lösen müssen und das vor allem eines braucht: Geduld, Respekt und Zeit.
9 von 10 Punkten