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Eine ganze Reihe von Flops und die Tatsache, dass er seine Projekte von British International Picture aufgedrückt bekam, anstatt seine eigenen Visionen in Bild und Ton umsetzen zu können, machten Alfred Hitchcock sehr unglücklich. Das Musical „Waltzes from Vienna“ bedeutete den vorläufigen Tiefpunkt in seiner noch jungen Karriere. Erst durch das Angebot von Michael Balcon (der letztmals bei „The Lodger“ sein Produzent war, bevor Hitchcock zu BIP wechselte), für seine neue Produktionsfirma zu arbeiten, hievte er sich aus dem tiefen Loch. Unter Balcon konnte er endlich das drehen, was er wollte. Der Beginn einer erfolgreichen Zusammenarbeit.

In Sankt Moritz wird vor den Augen der Familie Lawrence - bestehend aus der pubertären Betty (Nova Pilbeam) und ihren Eltern Jill (Edna Best) und Bob (Leslie Banks) - der Agent Louis Bernard (Pierre Fresnay) erschossen. Kurz vor seinem Tod kann dieser Jill noch ins Ohr flüstern, dass ein Attentat auf einen britischen Diplomat geplant ist. Um sie und ihren Gatten zum Schweigen zu bringen, lässt der Anführer der Verbrecherbande, Abbot (Peter Lorre), Betty entführen. Dem besorgten Ehepaar bleibt nichts anderes übrig, als auf eigene Faust nach der Tochter zu suchen und den drohenden Mord zu verhindern...

„The Man Who Knew Too Much“ war der erste von vier Thrillern, die Hitchcock für Gaumont-British inszenieren sollte, und er wurde ein voller Erfolg. Warum, das kann man durchaus noch nachvollziehen, fest steht allerdings auch (gerade im Vergleich zum mehr als gelungenen US-Remake von 1956), dass er viele Schwächen offenbart, die in der begeisterten zeitgenössischen Kritik unter den Tisch fielen.

Ein großes Problem ist die kurze Lauflänge von siebzig Minuten. Die Handlung rollt zwar flott voran und das Geschehen ist außerordentlich kurzweilig, aber dadurch, dass praktisch immer irgendetwas geschieht, fällt Charakterzeichnung weitestgehend flach, so dass die Identifikation mit den Protagonisten nur bedingt gegeben ist, was sich selbst dann nicht ändert, wenn sie sich in akuter Lebensgefahr befinden.

Lässt sich das noch gnädig übersehen, so stört es die Dramatik der Geschichte nicht unerheblich, dass die Eltern des entführten Mädchens nach der kurzen Exposition bis zum Schluss getrennte Wege gehen. Einzig Bob stellt (mit seinem Freund Clive) Nachforschungen an, wohingegen Jill als die eindeutig interessantere Figur der beiden zu Hause artig auf Rückruf ihres Gatten wartet. Interessanter ist sie darum, weil sie einmal nicht das Klischee der fürsorgenden, dem Ehemann treu ergebenen Mutter erfüllt wie etwa Doris Day im gleichnamigen Remake, sondern im Gegenteil: Nicht nur gibt sie anfangs freimütig zu, dass ihre Tochter ihr manchmal ganz schön auf die Nerven geht („Never have any children“, sagt sie zu Beginn einmal), sie scheint zudem in der Partnerschaft die Hosen anzuhaben und hat obendrein sogar noch zu guter Letzt die Heldenrolle inne - ein Part, den normalerweise der Mann, Bob, übernehmen müsste, dessen einzige gute Tat jedoch darin besteht, Jill Bescheid zu geben, wo der Diplomat umgebracht werden soll. Ansonsten zeichnet er sich durch eine ziemlich amateurhafte Vorgehensweise aus, weshalb er nicht überraschend schon bald in die Hände der Gangster gerät. Die Umkehrung der Rollenverhältnisse ist unbestritten - gerade im Jahre 1934 - noch innovativ und frisch, aber trotzdem hätte Edna Best als die Retterin mindestens zweier Menschenleben in meinen Augen ähnlich viele Leinwandauftritte haben müssen wie Leslie Banks, sprich: Sie ist schmählich unterbeschäftigt.

Doch worauf es im Genre bekanntlich hauptsächlich ankommt, das ist Spannung, möglichst pausenlos. In der Hinsicht enttäuscht „The Man Who Knew Too Much“ leider ebenfalls einigermaßen. Obgleich, wie bereits weiter oben festgestellt, der Film ein beachtliches Tempo vorlegt, mag sich das große Kribbeln nicht so recht einstellen. Potentiell aufregende Szenen finden sich hier zuhauf, das Optimum indes wird bei keiner herausgeholt. Dazu gehört auch die vielgerühmte Konzert-Sequenz in der Albert Hall: Der Zuschauer weiß, dass an diesem Ort an einer bestimmten Stelle ein von Abbot angeheuerter Attentäter einen tödlichen Schuss auf den Diplomat abfeuern wird und die Frage ist, ob Jill das verhindern kann. Eine Hitchcock-typische Suspense-Situation, wie man sie als Fan so liebt, mit hektischen Zwischenschnitten bis zur Ausführung des Plans wunderbar ausgedehnt, aber vom Aufbau her noch verbesserungsfähig (siehe Remake) - und der langen finalen Schießerei (einem seinerzeit vieldiskutierten authentischen Kriminalfall von 1910 zugrundeliegend) zwischen Verbrechern und Polizisten fehlt es an Dramatik, denn die Kameraperspektiven sind teilweise ungünstig gewählt. Dafür offenbart der Regisseur hierbei seinem Publikum seine angeborene Aversion gegen die Polizei, indem er sie im entscheidenden Moment als Trottel dastehen lässt, die sich nicht trauen, auf einen der Verbrecher zu schießen.

Richtig gut ist der Film immer dann, wenn Hitchcock gegen die Konventionen verstößt. Die Ermordung Louis Bernards etwa wird nicht minutiös vorbereitet, sondern geschieht ohne Vorankündigung aus heiterem Himmel während einer fröhlichen Tanzveranstaltung, wie sie zuvor nicht slapstickartiger (getreu der zu der Drehzeit so beliebten Screwball-Komödie) hätte dargestellt werden können. Gerade noch hat sich Bob einen Spaß erlaubt und eine Wollstola an einen Tänzer gebunden, wodurch in der Folge alle tanzenden Paare eingewickelt werden, Sekunden später sehen wir Bernard, eben quietschvergnügt, nun erschrocken „Oh! Look!“ sagend und mit einem Blutfleck in Brusthöhe tot zusammensackend, nicht ohne seiner Partnerin Jill ein gefährliches Geheimnis anzuvertrauen und die Story somit ins Rollen zu bringen.

Als ein enormer Gewinn für „The Man Who Knew Too Much“ erweist sich ohne Frage die Besetzung des Schurken mit Peter Lorre, der einige Jahre zuvor mit beängstigender Eindringlichkeit in Fritz Langs „M“ einen krankhaften Kindermörder spielte und hier gleich in seiner ersten ausländischen Rolle eine sensationell gute Leistung abliefert, ausnahmslos jeden (selbst die mehr als routinierten Leslie Banks und Edna Best) in den Schatten stellt. Mit seinem ungewöhnlichen Äußeren, seiner nuancierten Mimik, mit seinem holprig gesprochenen Englisch verkörpert er einen unverwechselbaren Charakter und zugleich einen von Hitchcocks gelungensten Bösewichten, der nicht einfach nur böse ist, sondern zudem intelligent, kultiviert, melancholisch in einem und an einigen Stellen richtiggehend sympathisch.

Im Ouevre des Regisseurs hat der hierzulande relativ unbekannte „The Man Who Knew Too Much“ insofern einen besonderen Platz, weil er, wie eingangs schon erwähnt, Hitchcocks Ruf als „Master of Suspense“ begründete. Qualitativ mangelt es ihm freilich noch an den großen Aha-Momenten (die gern zitierte Albert-Hall-Sequenz übertrumpfte er selbst Jahrzehnte später in Hollywood deutlich), ein durchgehend hoher Unterhaltungswert mit der gewissen Prise Humor lässt sich trotzdem nicht absprechen. 6/10.

(Originalartikel auf www.kinetoskop.de)

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