Über nur wenige Filme ist bereits so kurz nach bzw. schon parallel zu ihrem Erscheinen so viel geschrieben und disktutiert worden, wie seit Mitte der Neunziger Jahre über Scream. Und mit "Diskussion" ist hier tatsächlich ausnahmsweise mal nicht die Auseinandersetzung mit zensurgeilen Tugendwächtern gemeint, wie sie im gleichen Jahrzehnt, als prominente Beispiele, etwa Natural Born Killers oder Starship Troopers zu erdulden hatten, sondern eine lebhafte und leidenschaftliche, mit glühender Begeisterung geführte Fachsimpelei über Analysen und Interpretationen, Vorbilder und Einflüsse, Zitate und Anspielungen, die buchstäblich eine ganze Generation von Kinogängern erfasst hat, und nostalgisch rückblickend teilweise bis heute beschäftigt.
Betrachtet man sich die äußeren Umstände, erscheint der bombige Einschlag des Films noch umso erstaunlicher: der fast sechzigjährige Horror-Altmeister Wes Craven verfilmte für eine gezielt zur Realisierung von, nunja, "Billigproduktionen" gegründete Tochtergesellschaft einer Tochtergesellschaft des Disney-Konzerns ein Drehbuch eines bis dato noch völlig unbekannten Autors namens Kevin Williamson. Die Story? In einer fiktiven nordkalifornischen Kleinstadt metzelt sich ein Serienkiller durch die Schüler der örtlichen High School. Solche Filme waren damals schon seit rund zehn Jahren quasi völlig out, lediglich die beiden übergroßen Serien des Genres, Halloween und Friday the 13th, quälten sich, mit immer kruder werdenden Teilen, nach wie vor irgendwie über die Runden.
Und dennoch, mit einem Mal strömten junge Leute, die sich in den vergangenen Jahren so gut wie ausschließlich an großen und hochbudgetierten Studioproduktionen wie z. B. Batman Returns, Jurassic Park oder Independence Day gelabt hatten, wieder in Scharen in die Kinos, um einen kleinen Teenagerhorrorfilm zu sehen, von dem die Macher sich eigentlich nur ein bisschen schnelles Geld erhofft hatten. Am Ende hatte er allein in den USA über 100 Millionen Dollar eingespielt, war buchstäblich über Nacht zum Kultfilm avanciert und sollte eine für mehrere Jahre, bis ins nächste Jahrtausend, anhaltende neue Welle von Teenager- und vor allem Teenagerhorrorfilmen lostreten. Wie kam es dazu?
Man könnte es sich natürlich ganz einfach machen, indem man eben nur auf zyklische Trendwenden im Publikumsinteresse oder ähnliches verweist. Aber das würde dem zentralen Aspekt der sensationellen Erfolgsgeschichte von Scream schlicht nicht gerecht: denn der Film ist einfach genial!
Ähnlich wie Halloween, der Ende der Siebziger Jahre den ersten großen Boom von Filmen auslöste, in denen ein Serienkiller Jagd auf Teenager macht, und bewusst anders als viele der bis Mitte der Achtziger, und teilweise noch später, entstandenen, auf dieser Welle schwimmenden Teenagerhorrorfilme, ist Scream nicht einfach nur ein gewisse Genrekoventionen abspulender, dabei vielleicht geringfügig variierender und ab und zu bewusst durchbrechender Film. Seinen Finanziers mag es nur um leicht verdientes Geld gegangen sein, Drehbuchautor Williamson hingegen hatte aber, genau wie Halloween-Schöpfer John Carpenter, echte Ambitionen, um nicht zu sagen: eine Vision. Und mit den Produzenten Harvey und Bob Weinstein und Regisseur Wes Craven hat er genau die richtigen Leute gefunden, um diese auch zu realisieren.
Scream ist ein vielschichtiges filmisches Meisterwerk, das nur leider allzu oft bloß darauf reduziert wird, ganz unverhohlen zahlreiche Klassiker seines eigenen Genres zu zitieren, und sich in den Dialogen seiner Figuren letztlich selbst zu analysieren. Der erste Teil dieses Charakteristikums ist dabei gar nicht mal so neu, wie scheinbar viele glauben, das gehörte schon fast zwanzig Jahre vor Scream prägend zum Genre dazu. Innovativ ist nur die Art, wie der Film seine Vorbilder und Einflüsse freimütig preisgibt und, stellenweise sogar in bewusst gaghaftiger Form, diesen und anderen Filmen seine Referenz erweist.
Völlig unterschätzt wird von den Kritikern des Films dabei aber dessen immenses Selbstbewusstsein, das sich sowohl darin, als auch in seiner Eigenschaft äußert, seine eigene Handlung von seinen Figuren zerpflücken und kommentieren, teils zutreffend vorherzusagen, sie den Zuschauer aber auch bewusst in die Irre führen zu lassen. Die Zitate, Fremd- und Selbstreferenzen sind keine bloßen Spielereien, sind mehr als ironische Grüße an den Zuschauer. Sie sind vor allem auch ein Stilmittel, eine eigene Standortbestimmung des Films. Ein Bekenntnis zu seinem Genre, eine Verdeutlichung, dass er dessen Regeln und Mechanismen sehr wohl kennt, sich ihnen aber nicht sklavisch unterwirft, sondern mit ihnen spielt und sie, wo immer er will, neu interpretiert.
Vor allem aber reduziert eine allein auf Zitate und Selbstreferenzen fokussierte Rezeption des Films diesen letztlich auf eine Persiflage des Teenagerhorrorfilms, die er aber längst nicht ist! Scream ist in erster Linie ein absolut ernsthafter, atmosphärisch dichter und unheimlich spannender Thriller. Seine wahre Natur offenbar er dabei gleich in der gut zehnminütigen Eröffnungssequenz, die zeigt, wie eine scheinbar sichere und geborgene Idylle plötzlich jäh in einen blanken Alptraum aus Terror, Gewalt und Tod umschlägt. Sie ist ein raffiniertes, fesselndes und beklemmendes Kammerspiel, und auch wenn sie die Handlung des Films ins Rollen bringt und in seiner letztlichen Auflösung noch eine Rolle spielen wird, könnte sie ebenso auch als Kurzfilm für sich stehen.
Sie nimmt bereits alle Elemente vorweg, die den Film charakterisieren und prägen werden, zuvörderst den radikalen Bruch mit einer Entwicklung, die der Teenagerhorrorfilm zum Ende seiner Blütezeit Mitte der Achtziger genommen hatte: damals ging es diesem nämlich längst nicht mehr darum, dass der Zuschauer sich mit den jugendlichen Hauptfiguren identifiziert, mit ihnen mitzittert und mitleidet. Der Star war mittlerweile der jeweilige Killer, seine Opfer bloß noch reines "Machetenfutter", das seine Fans - auf möglichst blutige und originelle Weise - sterben sehen wollten. Das ist in Scream, wie bereits die Eröffnungssequenz eindringlich klar macht, wieder anders. Sein Killer ist, mit einer schwarzen Kutte und einer auf dem Motiv von Edvard Muncks - vor allem wohl durch zahlreiche Diebstähle - weltbekanntem Gemälde "Der Schrei" (sic!) basierenden Maske, originell gewandet. Er ist nicht nur ein physischer, sondern auch ein psychischer Sadist, er malträtiert seine Opfer nicht nur mit der Waffe seiner Wahl, einem Jagdmesser, er quält sie auch seelisch, indem er sich ihnen per Telefon ankündigt, sie dabei zunächst in harmlosen und launigen Smalltalk verwickelt, den er dann mit einem Mal in Todesdrohungen umschlagen lässt, die zu verwirklichen er auch absolut entschlossen ist.
Aber dennoch, obwohl er eine hochintelligente und einzigartige Figur ist, ist er kein Antiheld, mit dem das Publikum sich - offen oder heimlich - identifiziert, und das er mit seinen Taten begeistert. Die Sympathien des Zuschauers gelten seinen Opfern, nicht ihm. Seine Morde sind kein Spaß, sie sind blutiger Ernst. Das führt der Film dem Betrachter gleich zu Anfang vor Augen, indem er das erste Opfer des Killers nicht als genretypisches pre credit victim zeigt und inszeniert, sondern als eine Figur, zu dem das Publikum spontan eine Verbindung aufbaut, die es gerne als Bezugsperson annimmt. Das erste Opfer des Killers wird so eingeführt, als scheine es die tatsächliche Heldin des Filmes zu sein, nur um am Ende der Eröffnungssequenz dann doch eines grausamen und frühen Todes zu sterben.
Über diesen Schock vergisst der Zuschauer schnell die schon in die Eingangsszene eingeflochtenen Gags und Remineszenzen, wenn er sie in der packenden, bedrohlichen Atmosphäre überhaupt bewusst registriert hat. Der Film hat seine einzige wirkliche Regel klargestellt: er macht die Regeln. Er weiß, was der Zuschauer alles über andere Filme seines Genres weiß, und darum eigentlich auch von ihm erwartet. Er lässt den Zuschauer wissen, dass er weiß, was dieser weiß. Er fordert ihn spielerisch heraus, sein Wissen an ihm zu testen, ohne sich dabei aber in die Karten schauen zu lassen.
Scream erzählt seine Geschichte auf seine Weise, und setzt sich auch im weiteren Verlauf über zentrale Elemente des klassischen Teenagerhorrorfilms dezidiert hinweg: er schildert nicht die Ereignisse eines Tages bzw., wie meistens der Fall, einer Nacht, sondern spannt die erzählte Zeit seiner Handlung zunächst über Tage oder Wochen, und zeichnet in dieser ein subversives Sittengemälde seines Spielortes, einer fiktiven Kleinstadt als Inbegriff von small town America. Er blickt ungeniert hinter die Fassade einer scheinbar heilen Welt, enthüllt die auch dort lauernde Grausamkeit des Lebens und Bösartigkeit der Menschen. Nicht zuletzt, indem schon früh keinen Zweifel daran lässt, dass der Killer keine von außen kommende Bedrohung ist, nicht einfach das personifizierte, sich als Antrieb seiner Handlungen und Zweck seines Daseins selbst genügende personfizierte Böse, kein boogey man eben. Dem Zuschauer entgeht nicht, dass der Killer ganz offensichtlich aus dem Kreis der Haupt- und Nebenfiguren stammt, und hinter seinen Taten eine Motivation stehen dürfte, die in Ereignissen wurzelt, die sich am Spielort zugetragen haben oder zutragen.
Stimmig und schlüssig treibt Scream seine Handlung voran, verwandelt eine idyllische Kleinstadt in ein beengtes Labyrinth des Grauens, in dem hinter jeder Ecke der brutale Killer lauern kann, lockert diese unheilsschwangere Atmosphäre immer wieder auf, indem er seine Figuren anhand ihrer Kenntnis auch dem Zuschauer bekannter, populärer Teenagerhorrorfilme über Identität, Motivation und Vorgehensweise des Killers spekulieren lässt, liefert Hinweise und streut falsche Fährten, versteckt überall Gags und Referenzen an seine Vorläufer und Vorbilder, und mündet schließlich in ein packendes, actiongeladenes und blutiges Finale, als dessen Höhepunkt er eine Auflösung präsentiert, die zwar logisch und nachvollziehbar aus der Entwicklung der Geschichte folgt und sich lückenlos in das Gesehene einfügt, den Zuschauer aber dennoch mit vor Staunen offenem Mund zurücklässt. Warum ist er nicht selbst darauf gekommen? Gegenfrage: wie sollte er denn? Die Lösung entspricht weder den hergebrachten Regeln, noch verstößt sie gegen die Regeln. Sie lag zumindest ab einem gewissen Zeitpunkt der Geschichte, vielleicht sogar von Beginn an, eigentlich nah, auf Grund ihrer völligen Neuartigkeit aber doch so fern, dass der Zuschauer sie wohl schlicht gar nicht erst jemals angedacht hat.
Aber auch wenn man des Rätsels Lösung nach dem ersten Anschauen dann kennt, ist Scream dennoch ein Film, den man sich immer wieder anschauen kann und immer wieder gerne anschaut. Seine dichte und unheimliche Atmosphäre, in der eine Kleinstadt, das Sinnbild von Beschaulichkeit und Geborgenheit, zum Jagdrevier eines mysteriösen Serienkillers wird, ist einfach unnachahmlich und fesselt jedes mal aufs Neue. Bei den ersten Malen, die man den Film sieht, und zusammen mit seinem gekonnt entwickelten und sauber inszenierten suspense in jenen Szenen, in denen der Killer Jagd auf einen der Charaktere macht oder der Zuschauer einen solchen Angriff jedenfalls als unmittelbar bevorstehend wähnt sogar so sehr, dass man gar nicht alle Witze, Sprüche und Anspielungen entdeckt und erkennt.
Auch beim zehnten, zwanzigsten oder hundertsten Anschauen zieht Scream den Zuschauer noch immer in seinen Bann, und lässt diesen in wohlig schauriger Erinnerung an das unvergessliche erste Mal schwelgen, da er ihn gesehen.