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Bernardo Bertolucci erzählt die Lebensgeschichte zweier Kinder, die Anfang des 20.Jahrhunderts in sozial unterschiedlich gestellten Familien aufwachsen. Der eine ein Bauernsohn, der andere das Kind eines reichen Gutsherrn.

Bei manchen Filmen fragt man sich, wieso ihnen ein wirklicher Bekanntheitsgrad verwehrt blieb. Der Film "1900" ist heute nicht vielen ein Begriff, zuerst dürfte man ihn wohl mit dem Skandal in Verbindung bringen, den Bertolucci damit auslöste. Man warf ihm Verherrlichung des Faschismus (gerade der wird eigentlich kritisiert) und Pornographie vor. In Italien blieb "1900" deshalb einige Jahre lang verboten.

Wer also auf den Skandalfaktor schaut, kann sich diesen Film bedenkenlos reinziehen, ansonsten alle anderen, denen ausschweifend erzählte Epen gefallen. Dieser Film hier dürfte in Sachen Erzählweise so ziemlich das ausgefeilteste zu seiner Zeit gewesen sein, mal abgesehen von "Der Pate" und "Der Pate - Teil 2". Ich wage mal zu behaupten, dass sich sogar Sergio Leone für "Es war einmal in Amerika" viel von "1900" abgeschaut hat. Zum Beispiel die nicht chronologische Erzählstruktur, die mit dem eigentlichen Schluss beginnt. So versteht man am Anfang erst einmal gar nichts, erst wenn eine fast vierstündige Rückblende vorbei ist, kann man mit der Ausgangssituation etwas anfangen.

Das wichtigste Thema ist die ganze Zeit über wohl Freundschaft und wie soziale Missstände sie verändert. Das Leben der Hauptfiguren Olmo und Alfredo wird von Kind auf ausführlichst dargelegt, die Beziehung, die man als Zuschauer zu ihnen aufbaut, ist schier unglaublich. Man hat am Ende den Eindruck, man kennt die beiden schon ein Leben lang.

Robert de Niro und Gerard Depardieu sind selbstverständlich charismatisch und gut genug, ihre Figuren zu tragen. Vor allem de Niro vollbringt erneut eine Meisterleistung, denn sein Charakter verändert sich während der Jahre am meisten, auch vom Aussehen her. Berühmte Nebendarsteller gibt es ebenfalls einige, so sind Donald Sutherland (absolut fies!) Burt Lancaster und Sterling Hayden zu sehen, die jedoch nur untergeordnete Rollen spielen. Übrigens sind der überwiegende Teil der Darsteller keine echten Schauspieler, die vielen Bauern beispielsweise sind wirklich Bauern einer Provinz in Norditalien. Bertolucci machte dies, um seinen Film möglichst authentisch wirken zu lassen und holte sich von ihnen bei Bedarf auch Rat.

Man sieht schon, es ist ein erlesener Cast, der sich in diesen fünf prächtigen Stunden findet. Bertolucci hat keine Mühen gescheut, diese Geschichte zu erzählen, die ihm vielleicht auch ein persönliches Anliegen war. In die Handlung kommen so politische Einflüsse, die das Aufkommen des Faschismus schildern und wie die sowieso schon um ihre Existenz kämpfenden Bauern noch ärmer werden. Ich verstehe an dieser Stelle echt nicht, wie man Bertolucci Verherrlichung des Faschismus vorwerfen kann, genau das Gegenteil ist nämlich der Fall. Sutherland als Symbolfigur der Faschisten ist wirklich das Böse in Person, einem Charakter, dem man am Ende einfach nur noch einen qualvollen Tod wünscht.

Sein Handeln zuvor ist derart grausam, dass man manchmal nur wegschauen möchte, womit wir beim nächsten Punkt wären: Die Gewalt. "1900" ist an manchen Stellen wirklich grausam, auch ohne Fontänen von Blut. Die Unterjochung der Bauern geht einem echt ans Herz, vor allem wenn man sieht, wie manche von ihnen wahllos erschossen werden. Szenen wie die mit der zerfetzten Katze an einem Pfahl oder die mit dem Jungen, dessen Kopf in einem Stall an einer Wand regelrecht zerplatzt, werden zwar nicht explizit dargestellt, lassen einen aber stumm aufschreien.

Vielleicht haben dann in Wahrheit doch solche Szenen die Zensoren erschreckt, nicht die angebliche Pornographie. In den fünf Stunden gibt es zwar genug Sex und nackte Körper zu sehen, die in den USA bis heute für ein NC-17 reichen sollten, doch Pornographie kann ich da keine entdecken. Man muss allerdings bedenken, dass es in den 70ern sicherlich den Atem stocken ließ, wenn ein alter Großgrundbesitzer in einem Stall seine Hose öffnet und eine minderjährige Magd bittet "Fass ihn an!".

In Worten kann man schlecht beschreiben, was "1900" alles ausmacht, es ist so viel auf einmal, dass man es nach Konsum erst einmal ordentlich verdauen muss. So viel sei aber gesagt: Ich kenne keinen anderen Film, der dem unwissenden Zuschauer so viel von einer Epoche und einer unteren sozialen Schicht vermittelt und das derart mitreißend. Ein Jahrhundertepos, das vor Pracht nur so strotzt. Zwar tun sich durch die gewaltige Laufzeit von knapp 300 Minuten selbstverständlich Längen auf und selbstverständlich ist das kein Film, den man sich öfter als einmal im Jahr anschaut, doch wer üppige und aufwendige Epen an sich mag, der wird hier möglicherweise den ultimativen Film finden. Faszination pur!

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