Review

Ein dicker, langer, splittriger Holzbalken schiebt sich unaufhörlich auf einen menschlichen Augapfel zu. Eine Rasierklinge lässt beim Schnitt durch die Augenpartie eines Gesichtes den Augapfel aufplatzen. Eine dicker Nagel wird durch einen menschlichen Handteller getrieben. Man kennt solcherlei Szenen aus dem italienischen Horrorkino, vor allem vom Horrorfilm à la Splatter-Maestro Lucio Fulci – in diesem Fall sei auf "Zombi 2" (1979), "L'aldilà" (1981) und "Lo squartatore di New York" (1982) verwiesen. Ich erwähne Fulci hier nicht, weil er als wichtigster Vertreter des italienischen Splatterfilms erheblichen Einfluss auch auf Fabio Salerno gehabt haben dürfte, oder weil "L'aldilà" im Englischen als "The Beyond" nahezu denselben Titel trägt wie Salernos "Oltretomba"/"Oltretomba (Beyond)" – sondern weil diese genannten ikonischen Splatterszenen bereits Jahrzehnte zuvor eine frappierende Entsprechung im Avantgardesektor gefunden hatten. In Luis Buñuels "Un chien andalou" (1929) schiebt sich bereits die Rasierklinge durch den Augapfel (einer surreal unbeteiligten Frau), derweil eine schmale Wolke den Vollmond zu zerteilen scheint. Dort taucht bereits auch die menschliche Hand auf, aus deren fingerdickem Loch im Handteller Ameisen herauskrabbeln.
Der frühe Avantgardefilm liebte die Fragmentierung: den Schnitt des Filmstreifens, die Körper fragmentierende Großaufnahme, die Handlungen zersetzenden Situationen...
Konzentriert sich der Avantgardefilm ab Michael Snow ("Wavelength" (1967), "Le région centrale" (1971)), Hollis Frampton ("Lemon" (1966)) und natürlich Warhol ("Empire" (1964)) – vor allem aber infolge von Deleuzes "Zeit-Bild" (1985) und der "versiegelten Zeit" (1984) Tarkowskijs, der wie später auch Sokurow als "antiavantgardistischer Avantgardist"[1] wahrgenommen worden ist – längst (und ganz besonders auch als Videoinstallation) auch auf long Take- oder single take-Werke, so war doch bis in die späten 60er Jahre hinein (bei Brakhage oder Conrad) die Montage sein Allerheiligstes. Sie schien der Ausdruck par excellence der formgebenden Tendenz des Films zu sein, zerstückelte sie doch alle natürlichen Eindrücke und fügte sie neu wieder zusammen. Die Montage dominierte den Rhythmus oder vielmehr dominierte der Rhythmus die Montage. Vor allem aber: Achselbehaarung wird auf diese Weise zum Seeigel, ein Auge zum Mond oder ein Brustpaar zu Arschbacken (Buñuel), aus essenden Menschen werden fressende Tiere oder aus speisenden Reichen hungernde Arme (Ruttmann); Körperteile treten ohne ihren Leib in Erscheinung (Ravel, Léger, Richter, Chytilova). Handlungen werden in Einzelteile aufgelöst, Körper in ihre Einzelteile zerlegt. Diese Zerlegung behauptete, konstruktiv zu wirken (indem sie neue Sichtweisen ermöglichte) – und so zeigte die Avantgarde schon früh ein Interesse auch am nicht mehr bloß durch die Montage zerlegten Leib: "Le bon invalide et les enfants" (1908), ein heimlicher Vorläufer der Avantgarde, ließ einen Mann in seine verschiedenen Prothesen (inklusive Kopf-Prothese) zerfallen. Bei Buñuel war es die Versehrung von Auge und Hand, bei Brakhage und Ulive waren es bereits die geöffneten & ausgenommenen Kadaver: zu dieser Zeit hatte sich die Avantgarde in den Experimentalfilm und den Underground aufgeteilt. Und gerade der Underground interessierte sich für den Tabubruch und somit auch für die versehrten Leiber; Richard Kerns Cinema of Transgression war bald darauf diesbezüglich ein erster Kulminationspunkt.

Der Splatterfilm besitzt – wie der pornografische Film! – ein subversives Potential (das er bei weitem nicht immer sonderlich gelungen entfaltet); eine Nähe zur Avantgarde schien allerdings nur selten gewünscht zu sein. Gerade der (metafilmische, experimentalfilmgeschulte) selbstreflexive Blick auf die Montage war dem Splatterfilm ein Tabu: die Verletzung & Verstümmelung eines Körperteils in zwischengeschnittener Großaufnahme galt hier als Störfaktor der Authentizität.[2]

Fabio Salernos "Oltretomba" – um nun endlich auf den Film zu sprechen zu kommen, der hier ja besprochen werden soll – ist ein Film, der diese heimliche Nähe zwischen Splatter und Avantgarde besonders spürbar werden lässt. Als Amateurfilm weist er freilich ohnehin schon eine Nähe zum Underground auf; doch im Gegensatz zum deutschen Amateursplatter – der bloß bei Buttgereit, vielleicht auch noch beim frühen Ittenbach wirklich Relevanz & Raffinement besaß – ist hier auch noch die avantgardistische Wurzel des Undergrounds zu erkennen (wenngleich sie eher unbewusst mit ins Spiel – und in den Spielfilm – geraten sein dürfte).
Man muss doch noch einmal ein paar Jahrzehnte zurückblicken: Gianni Hoepli & Ubaldo Magnaghi hatten mit "Il caso Valdemar" (1936) einen Kurzfilm abgeliefert, der heute gerne als erster Splatterfilm bezeichnet wird, vor allem aber ein stark avantgardistischer Film ist. Aus einer Statue in Untersicht werden gleich zu Beginn in den nächsten Einstellungen Gesichter in Untersicht. Eine weitere Einstellung zeigt all diese Figuren dann unscharf im Hintergrund, derweil im Vordergrund ein dunkles Perpendikel schwingt und gut 1/5 des Bildes ausfüllt. Dann die Figuren ohne Perpendikel im Vordergrund: expressiv beleuchtet. Gesichter und Hände in Großaufnahme. So geht das die ganze Zeit: Etwa der Kreis der zusammengelegten Hände der Okkultisten & Parapsychologen (wie in "Dr. Mabuse, der Spieler" (1922)): erst ziemlich beeindruckend aus totaler Aufsicht, dann aus irrealer Sicht der Tischplatte (aus der entgegengesetzten Untersicht)... Schräge Bildkompositionen, Fahrten über Details in Nahaufnahmen, kreisende Kamera. So erzählt der Film die Geschichte, die Edgar Allan Poe in ihren Grundzügen bereits als "Mesmeric Revelation" (1844) und schließlich in "The Facts in the Case of M. Valdemar" (1845) erzählt hat: Ein Sterbender wird hypnotisiert und noch nach seinem Ableben ausgefragt. Als dann die Hypnose beendet wird, verfault sein über den Tod hinaus am Sprechen gehaltener Körper schließlich unnatürlich schnell. Und hier inszenieren Hoepli und Magnaghi in der Tat eine Splatterszene, die den italienischen Horrorfilm der 70er & 80er Jahre um Jahrzehnte vorwegzunehmen scheint: Die Gesichtshaut Valdemars verfärbt sich, wirft Falten, wird schleimig-suppig, blutig und fällt in zäh-dicken Klumpen vom Schädel, der sein sardonisches Grinsen zeigt, das die letzten Bilder dominiert.

Dieser lange Zeit bloß in Italien wahrgenommene und erst in der Internet-Ära populärer gewordene Kurzfilm hallt nun bei Salerno nach. Das könnte man vernachlässigen, würden hier bloß Haut und Fleisch von einem Schädel fallen wie zuvor bei Hooper ("Poltergeist" (1982)) oder kurz darauf bei Spielberg ("Indiana Jones and the Last Crusade" (1989)) oder Kaneko ("Necronomicon" (1993)). "Oltretomba" jedoch bedient sich darüber hinaus ebenfalls bei E. A. Poe...
Der Film erzählt die Geschichte eines jungen Parapsychologen, der seinen Geist in den Geist anderer Menschen einklinken kann. Einen Blick in das Jenseits will er werfen – genauer: einen Blick in die Hölle. (Ganz so, wie es Schweick, dem Künstler, in Fulcis "L'aldilà" vergönnt war.) Also macht er sich auf die Suche nach einem Menschen, der sowohl im Sterben liegt als auch als schlecht und sündhaft bezeichnet werden kann. In seiner Fixierung auf das Sündhafte wählt er sich einen Junkie aus – dessen Ableben er mit dem bewusst herbeigeführten goldenen Schuss beschleunigt. (Die Abwertung des Junkies wird nicht bloß vom Parapsychologen vorgenommen, sondern entspricht scheinbar auch Salernos eigenen Ansichten: In "Arpie" (1987), seiner kleinen Amateur-Perle, begegnet sie einem in objektivierter Form immerhin noch einmal...)
Das ist also die Ausgangssituation, der ein (wie häufiger bei Salerno) liebevoll animierter Vorspann folgt. Dann setzt die Hauptfigur ihren Plan um: spritzt ihr rauschgiftsüchtiges Opfer zu Tode, legt sich die Hände an die Schläfen und fällt in eine Trance. Scheinbar passiert gar nichts. Doch auf dem Heimweg per Taxi ist der Mann dann bereits zuhause angekommen, als er das Taxi just erst betreten hat. Als er dem Taxi dann entsteigt, ist aus dem hellichten Tag plötzlich finsterste Nacht geworden. In seiner Wohnung erwarten ihn dann ganz andere Schrecken: Nachdem schon der Taxifahrer ein ziemlich verunstaltetes Gesicht aufwies, häufen sich nun die Zeichen von Tod & Verwesung. Fette Maden – der Italo-Horrorfan kennt sie aus "Paura nella città dei morti viventi" (1980), "Zombi 2" und "Suspiria" (1977)! – tummeln sich im Waschbecken. Ein Klempner oder Kammerjäger erscheint, kaum nachdem er angerufen worden ist – und verhält sich nicht bloß höchst befremdlich, sondern zerfällt vor den Augen der Hauptfigur, die daraufhin aus einem Alptraum erwacht (und feststellt, dass ihr Unterleib abgetrennt worden ist, was freilich noch Teil des doch noch nicht beendeten Alptraums ist). Anschließend erscheint das (un)tote Opfer des Parapsychologen an der Haustür – und verschwindet ebenso schnell wie es erschienen ist. Ein schlagendes, blutiges Herz liegt am Boden. (Poes "The Tell-Tale Heart" (1843) dürfte Inspirationsquelle gewesen sein.) Eine fremde Frau erscheint im Wohnzimmer. Eine Türklinke versetzt dem Protagonisten einen Stromschlag, woraufhin er – wie Valdemar bei Hoepli und Magnaghi – regelrecht schmilzt und verfault; um dann wieder aus einem Alptraum hochzustrecken – diesmal jedoch lebendig begraben in einem Sarg unter dem Friedhof. Lebendig begraben wie in Poes "The Premature Burial" (1844) – oder Fulcis "Paura nella città dei morti viventi". (Der Parapsychologe war offenkundig erfolgreich mit dem Blick in die Hölle: es scheint jedoch sein ganz eigener Blick in seine ganz eigene Hölle zu sein, die er sich mit seinen Experimenten verdient hat.)

Poe klingt hier ziemlich deutlich an: "The Premature Burial" & "The Tell-Tale Heart" könnte man mit dem Hinweis auf eine zufällige Ähnlichkeit beiseite wischen; für ein bewusstes Zitat spricht jedoch der Umstand, dass der sich zersetzende Körper ähnlich wie in "The Facts in the Case of M. Valdemar" mit einer parapsychologischen Verbindung, einem psychic link, zwischen dem Parapsychologen und seinem Opfer einhergeht – hier allerdings auf andere Art & Weise (die zugegebenermaßen auch etwas trivialer ausfällt als bei Poe).
Der zweite große Einfluss dieses Kurzfilms wäre freilich Lucio Fulci: Ebenso wie Salerno in "Arpie" Dario Argento und der Argento-Schule um Lamberto Bava huldigt, ist er in "Oltretomba" von Fulcis (quasi lovecraftscher) Trilogie inspiriert worden. Insbesondere "L'aldilà" ist hier mit seinen Einbrüchen des Sinnwidrigen in die Realität präsent: Raum und Zeit scheinen aufgehoben zu sein, die Montage lässt einen übergangslos von einem Raum in einen weit entfernten zweiten Raum gelangen. Dazu die typischen Fulci-Bilder (& -Töne): Maden, klaffende Kopfwunden, abgetrennte Körperteile, blutiges Fleisch in kauenden Mündern, bedrohlich raunende Musik.
Stärker als bei Fulci verweist hier jedoch der Einbruch des Sinnwidrigen in die Realität auf die Avantgarde zurück: das noch nicht losgefahrene und im Schnitt darauf doch bereits angekommene Taxi und der nach einem weiteren Schnitt extrem verdunkelte Himmel sind von einer rohen Ungeschlachtheit. Ist der Einbruch des Irrealen bei Fulci vereinnahmend, so ist er bei Salerno störend. Schlecht gemacht - so mag man sich denken; insbesondere wenn man Amateurfilme nur ungern durchsteht. Aber kurz vorher wird solch ein Störeffekt ziemlich bewusst eingebaut: eine Art jump cut, welcher auf die Trance des Parapsychologen folgt, der sich gerade über sein sterbendes Opfer beugt. Man sieht ihn kurz von hinten links in leichter Aufsicht. Kurz darauf in einer neuen Einstellung in starker Aufsicht – nun etwas mehr von links als von hinten. Sogleich in der nächsten Einstellung in starker Aufsicht von hinten rechts. Und schließlich auf Augenhöhe und wieder etwas weiter entfernt von rechts (im Profil). Eine schnell geschnittene Sequenz, die mehr mit einem "Ballet mécanique" (1924) als mit einem "L'aldilà" gemeinsam hat.
Auch der Stromschlag gegen Ende wirft als animierter Trickeffekt aus der Illusion (und erinnert an die Materialfilme eines Brakhage oder einer Hein). Im Low- & No-Budget-Spielfilm verwiesen einfache Trickeffekte meistens auf die Ästhetik der Avantgarde. Hatte der avantgardistische Kurzfilm "Il caso Valdemar" im Jahr 1936 den italienischen Splatterfilm ab Ende der 70er Jahre scheinbar vorweggenommen, so verweist diese Fan- & Amateurfilm-Produktion aus den späten 80er Jahren, die sich deutlich im italienischen Horror- & Splatterkino einreiht, wieder auf die Avantgarde zurück und erinnert daran, dass die Avantgarde nicht bloß den Experimentalfilm nach sich gezogen hat, sondern auch mit Underground, Amateurfilm und Splatter (bzw. der Transgression generell) eng verwoben ist.

Der ein knappes Jahr zuvor abgedrehte "Arpie" ist im Hinblick auf seine Handlung deutlich ambitionierter und auch Hauptdarsteller Francesco Rinaldi schlägt sich dort inmitten einer konventionelleren Dramaturgie etwas besser als hier. Und wer sich nicht allzu weit von konventionellen Seherfahrungen entfernen mag, ist mit "Notte profonda" (1991), dem einzigen Langfilm des 29jährig durch Suizid verschiedenen Amateurfilmers (der in diesem Jahr 55 Jahre alt geworden wäre), sicherlich am besten bedient. "Oltretomba" ist noch kein sonderlich involvierender, packender Horrorfilm, sondern eine schnell erzählte, pointierte Horrorstory, die eher gewitzt als schockierend ist; die sich schon in der Titeleinblendung mit selbstbewusster Ironie präsentiert... und die eben über die Nähe zwischen der Fragmentierung & Verformung der Avantgarde und der Fragmentierung & Verformung des Splatters sinnieren lässt.
5,5/10


1.) Hans-Joachim Schlegel: Der antiavantgardistische Avantgardist. In: Peter W. Jansen, Wolfram Schütte (Hg.): Andrej Tarkowskij. Hanser 1987; S. 23-42.
2.) Vgl.: Stefan Höltgen: Take a Closer Look. Filmische Strategien der Annäherung des Blicks an die Wunde. In: Julia Köhne, Ralph Kuschke, Arno Meteling (Hg.): Splatter Movies. Essays zum modernen Horrorfilm. Bertz + Fischer 2005; S. 20-28.

Details
Ähnliche Filme