Es beginnt alles sehr friedlich, geradezu entsetzlich normal: John Tolls Kamera streift durch die Straßen eines ärmlichen Viertels in Boston und fängt die Menschen bei ihren alltäglichen Tätigkeiten ein, Spiele auf der Straße, Unterhaltungen, starre Blicke.
Nichts davon ist gekünstelt, alles geradezu beeindruckend real und dementsprechend nicht sonderlich hübsch, vor allem nicht die Menschen.
Eine ruhige Männerstimme führt die Zuschauer ans Geschehen: ein kleines Mädchen ist verschwunden…
Wer jemals Dennis Lehane gelesen hat, weiß, was jetzt kommt – wer nicht, hat möglicherweise „Mystic River“ gesehen, Lehanes erstes Buch und hier wie dort ist ein Ereignis, nicht das, was es auf den ersten Blick scheint, zieht das Geschehen Kreise, hat Auswirkungen, schlimme Konsequenzen für alle Beteiligten.
Die scheinbare Entführung zieht zwei junge Privatdetektive (Casey Affleck, Michele Monaghan) ins Geschehen, die parallel zur Polizei ermitteln. Die Mutter ist ein Koksopfer, die Verwandtschaft schreit sich an und hinter allem scheint ein Dealer zu stecken, der von der Mutter um sein Geld gebracht wurde.
Aber Ben Afflecks erste Major-Regiearbeit ist weder Thriller noch pures Krimi, sondern tut immer nur so, um den nächsten Schlag vorzubereiten. Niemand hier ist, was er scheint und hinter scheinbaren Motive stehen ganz andere.
Dabei dient die komplette erste Hälfte des Films geschickterweise als Aufbau für die zweite, in der sich das Geschehen nach und nach komplett umkehrt. Gut und Böse verwischen, Täter und Opfer sind nicht mehr klar auseinander zu halten.
Doch selbst dieser Plot-Twist ist nicht das Zentrum des Geschehens für die Figuren und den Zuschauer. Stattdessen rückt das eigene Rechts- und Gerechtigkeitsempfinden in das Zentrum des Geschehens.
Genau zweimal während des Films steht die Hauptfigur vor einer schwerwiegenden Entscheidung bezüglich seines weiteren Vorgehens. In jedem Fall entscheidet er sich, doch wann entscheidet er richtig und wann falsch. Und was ist überhaupt richtig oder falsch?
Was ist Recht und was ist richtig – und vor allem wann?
Affleck hat die Möglichkeiten des Plots gut erkannt, Charakterspiel trifft auf Drama und das alles noch schön kontrovers aufgemacht – der Zuschauer wird zur Reaktion auf das Geschehen gezwungen, beurteilt die Entscheidungen beim ersten Mal als richtig, obwohl sie unrecht ist und sieht sie am Ende falsch, obwohl sie Recht waren.
Die Tendenz des Zuschauers zur einfachen Moral ist frappierend und selten führte ein Film einem die Kontroverse so schön deutlich vor Augen, so dass man hinterher ordentlich Stoff zum Diskutieren hat.
Filmisch hat der zweifach oscarprämierte John Toll für diese mehr als ein Jahr umspannende Story naturalistische, unaufgeregte Bilder gefunden, die nicht auf Geschwindigkeit, sondern auf Authenzität setzen
Als kleinen Minuspunkt muß man allerdings anführen, das die Konstruktion ihre Darreichungsform um ein Vielfaches übertrifft. „Gone Baby Gone“ ist sehr bedächtig und bedacht inszeniert und das merkt man ihm auch an, nicht unbedingt manieriert zu nennen, aber Affleck verfilmte sein Lieblingsbuch wirklich mit akribischer Liebe zum Detail und das bedeutete am Ende auch, die entscheidende Kontroverse relativ wortreich auf der Leinwand vorzubringen und dem Spannungsbogen auch sonst ein bisschen Leine zu lassen, so dass hin und wieder der Wunsch nach etwas mehr Nachdruck entsteht.
Einen überragenden Plottwist sollte man von dem Film allerdings nicht erwarten, tatsächlich ist der erzählerische Umbruch durchaus schon früh zu erahnen, aber es ging ja auch nicht darum, einen Verblüffungseffekt zu erzielen.
In seiner finalen Konsequenz, die einen ziemlich bitteren Nachgeschmack hinterlässt (die Schlussszene ist ein Monument an Rat- und Wortlosigkeit in einem Meer des Zweifels), ist er geradezu eine Seltenheit.
Insgesamt durchaus ein Anwärter auf die Award-Season, ein abwechslungsreicher und recht intelligenter Film, der eine Bravouraleistung von Ed Harris (als Polizist) bietet und leider ausgerechnet in dem mimisch etwas durchschnittlichen Hauptdarsteller Casey Affleck seinen Schwachpunkt mit sich schleppt.
Dennoch ein hervorragendes Stück Filmdrama, für das das Publikum ein wenig mitarbeiten, und die gewohnten Geschwindigkeitsstürme des modernen Kinos vergessen muß, dann aber ausgezeichnetes, genreübergreifendes Kino geliefert bekommt. Daß man hier (dankbarerweise) auf ganz große Stars verzichtet hat, könnte sich in der Hinsicht allerdings als hinterlich erweisen. Dennoch über weite Strecken ein Genuss! (8/10)