OUT 1 ist, wenn überhaupt, wohl vor allem wegen seiner epochalen Laufzeit von nahezu dreizehn Stunden bekannt. Unterteilt in acht Episoden von einer jeweiligen Durchschnittslänge von etwa neunzig Minuten, nimmt Jacques Rivette, selten ein Freund von Laufzeiten, die sich an der Norm orientierten, sich alle Zeit der Welt, um seine Geschichte sich entwickeln zu lassen. Dennoch sollte oder kann man über die inhaltliche Seite des Films wenig bis gar nichts verraten. Im Mittelpunkt von OUT 1 stehen im Grunde vier zunächst unabhängige Handlungsstränge. Zwei davon befassen sich mit jeweils einer Theatergruppe, die postmoderne Versionen griechischer Klassiker von Aischylos inszenieren wollen. Die eine Gruppe hat sich seinen Prometheus auserkoren, die andere widmet sich seinen Sieben gegen Theben. Zugleich werden zwei weitere Personen, die nichts miteinander zu tun haben, auf eine Geheimgesellschaft der Dreizehn aufmerksam. Colin, ein junger Mann, der die Straßen Paris als Taubstummer durchstreift, um mit Hilfe seiner Mundharmonika Geld zu erbetteln, erhält ominöse Nachrichten, diese Organisation betreffend, während ein Mädchen namens Frédérique sich ihr Geld als Diebin verdient und eines Tages bei einem Einbruch mehrere Briefe erbeutet, die offenbar von einem Mitglied jener Geheimgesellschaft an ein anderes geschickt wurden. Aus unterschiedlichen Motivationen versuchen Colin und Frédérique nun, unabhängig voneinander, mehr über die Dreizehn herauszufinden – Colin offenbar aus intellektuellen Gründen, Frédérique versucht sich als Erpresserin und möchte ihr Wissen und die entwendeten Briefe nur gegen ein gewisses Entgelt den rechtmäßigen Besitzern zurückgeben – und bald schon überschneiden sich ihre Nachforschungen mit den Theatergruppen, von denen sich herausstellt, dass sie einst eine einzige darstellten, die sich dann in zwei Gruppen separierte, und dass einige ihrer Mitglieder früher zu der mittlerweile aufgelösten Gesellschaft der Dreizehn gehörten.
Klar muss sein, dass dies nur in etwa der rote Faden ist, der das Werk durchzieht. Aufgereiht an ihm sind, was bei der monumentalen Länge sicherlich niemanden verwundern wird, etliche Nebenhandlungen. Rivette erzählt, und auch das muss klar sein, keine in sich schlüssige, leicht konsumierbare Story. Selten habe ich einen Film gesehen, der derart offen für Interpretationen ist. Erklärungen bekommt der Zuschauer gar nicht geliefert. Selbst die oben skizzierte Kerngeschichte erschließt sich einem nicht von selbst. Vieles bleibt unklar, wird nur angedeutet und das Publikum muss sich einen eigenen Sinn zurechtlegen, eigenständig herausfinden, weshalb eine Person so handelt wie sie handelt oder in welcher Beziehung zwei Protagonisten nun eigentlich konkret zueinander stehen. Einiges verläuft sich auch schlicht im Sand und reiht sich gar nicht erst in ein sinnvolles Gesamtbild ein. Überhaupt lässt sich OUT 1 mit einem Fluss vergleichen, der sich in unzähligen Nebenarmen verliert, von denen manche alsbald versickern, andere zurück zum Hauptstrom finden, bis am Ende alles im Meer mündet, im Falle von OUT 1 im wahrsten Sinne des Wortes.
OUT 1 ist eine Ohrfeige für jeden Freund des Mainstream-Kinos, und selbst die Jünger des eher abseitigen Films werden ihre Probleme mit dem Film haben. OUT 1 ist wohl mit Abstand der unkommerziellste Film, den ich jemals zu Gesicht bekommen habe, ein Film, der scheinbar alles dafür tut, um sich vor seinen Zuschauern zu verschließen, um sie mit immer neuen Tricks und Kniffen von sich fernzuhalten, damit nur die sich an ihn herantrauen, die wirklich das Potential haben, ihn zu lieben: angefangen bei der Laufzeit, die die meisten schon abschrecken wird, über die Art und Weise wie Rivette seinen Film beginnt, nämlich ohne Exposition, einfach mitten hinein ins Geschehen, ohne dass das Publikum weiß, wer die Personen auf der Leinwand eigentlich sind und was sie da tun (erst nach Stunden kristallisiert sich eine einigermaßen nachvollziehbare Handlung heraus: bis dahin kann man froh sein, wenn man überhaupt beiläufig die Namen der Protagonisten aufgeschnappt hat), bis hin zum fast völligen Verzicht auf filmische Mittel. Rivette bricht in OUT 1 permanent durch die vierte Wand hindurch. OUT 1 steckt beispielsweise voller Fehler, die nachträglich nicht kaschiert wurden. Teilweise hängen Mikrophone deutlich ins Bild hinein, man sieht Reflexionen der Kamera in Spiegeln, die Szenen, die auf offener Straße gedreht wurden, fallen dadurch auf, dass die Kamera den Passanten auffällt, und andauernd jemand in ihre Linse starrt. Großartig bewegen darf sich die Kamera nicht. OUT 1 ist alles andere als ein hektischer, rasanter Film, besteht vielmehr aus stellenweise quälend langen Aufnahmen ohne Schnitt, höchstens mit minimalen Kamerafahrten. Besonders auffallend wird das, wenn Rivette in den ersten Episoden unfassbar viel Zeit darauf verwendet, den Theatergruppen bei ihren Proben zuzuschauen. In solchen Momenten wirkt OUT 1 wie eine Dokumentation. Die Kamera folgt unbemerkt den Leben verschiedener Leute und filmt sie bei ihrem Alltag. Rivette lässt seine Darsteller improvisieren. Lange Gespräche führen nirgendwohin, bringen nichts für die Handlung Relevantes. Dass alles so fragmentarisch wirkt und wenig kohärent, hat einzig und allein damit zu tun, dass das Leben an sich ebenfalls nur aus einzelnen Fragmenten ohne höhere Ordnung besteht und Kohärenz eine Illusion ist. Wo die meisten Filme ihre Fragmente zusammenfügen, sie ordnen, um eine ungebrochene Geschichte zu erzählen, wirkt es so, als ob Rivette alles in seinem Ursprungszustand belässt, es vielleicht sogar noch mehr verwirrt, um noch größere Unordnung zu stiften.
OUT 1 speist sich demnach aus zwei Quellen. Einerseits ist da der Realismus der Nouvelle Vague oder des Cinéma vérité. Die starre Kamera, regungslos wie die Leute in ihren Kinosesseln, beobachtet nur, wertet nicht, schaut zu, kommentiert nicht, und man hat das Gefühl, keinen Film zu sehen, sondern echte Einblicke in die Wirklichkeit zu erhalten. Andererseits bricht Rivette ja, wie erwähnt, dauernd mit dieser Illusion, und reibt seinem Publikum unter die Nase, dass es ja doch nur ein Film ist, den es sich ansieht. Das wird auch in der Verschwörungsgeschichte deutlich, die derart verworren aufgedröselt wird, dass man das Gefühl hat, der Regisseur wolle sich bewusst über die festgefahrenen Formen des Erzählens lustig machen, eine Parodie als Gegenentwurf zur standardisierten Sprache des Mainstream-Films aufstellen. Godard kommt einem wohl nicht zufällig in den Sinn, wenn OUT 1 ganz am Ende tatsächlich noch eine Szene auffährt, in der ein Mädchen mit einer Waffe eine entscheidende Rolle spielt. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Drehbuch von OUT 1, nach radikalen Kürzungen und Neuordnungen, auch als amerikanischer Mainstream-Thriller funktionieren könnte. Das Anliegen Rivettes ist es aber, gerade das zu verhindern, und jegliche Anbiederungsversuche an sein Publikum zu unterlassen.
Rein optisch ist OUT 1 ein Film ohne Schauwerte. Alles spielt sich in kargen Studios ab, in gewöhnlichen Wohnungen, auf offener Straße. Der Schnitt ist behäbig, die Kameraarbeit selten aufsehenerregend, generell wirkt der Film minimalistisch. Worin OUT 1 allerdings mit Reichtum glänzt, das sind seine schauspielerischen Leistungen. Wo Godard in seinen Filmen ständig das Thema Film thematisiert, ist es bei Rivette die Schauspielerei, die ihn fasziniert. OUT 1 ist unter anderem auch ein Film übers Schauspielen, was allein schon in den endlosen Theaterszenen deutlich wird, inszeniert mit Schauspielern, die besser nicht sein könnten. Vor allem Jean-Pierre Léaud als Colin und Juliet Berto als Frédérique legen die Perfomances ihrer Karrieren hin. Und ein Zufall ist es wohl ebenfalls nicht, dass OUT 1 wegen seinem reduzierten Look selbst mehrmals wie ein Theaterstück wirkt.
Obwohl es sich bei OUT 1 eindeutig eher um einen intellektuellen Film handelt, der von den Zuschauern alles an Konzentration und Denkvermögen abverlangt, was sie besitzen, und vielleicht sogar noch mehr, finden sich doch einige Szenen, die die lockere Atmosphäre der Nouvelle Vague in sich tragen. Es ist ziemlich witzig, Frédérique zuzuschauen wie sie immer neue Tricks ersinnt, um arglosen Männern das Geld aus der Tasche zu ziehen, und dadurch in teilweise abenteuerliche Situationen gerät. Sämtliche Szenen, die Léaud auf seiner Suche nach dem Geheimnis der Dreizehn zeigen, sind schlicht absurd und unheimlich unterhaltsam. Ein weiterer Höhepunkt ist Eric Rohmers Auftritt als Balzac-Experte, der einen langen Vortrag über das Motiv der Dreizehn im Werk des französischen Schriftstellers hält, und einige wunderschöne Strandaufnahmen, die im starken Kontrast zu den eher kühlen, nackten Bildern der Großstadt stehen.
Nichtsdestotrotz ist OUT 1 die totale Verweigerung, die es zumindest mir unvorstellbar schwer fallen ließ, mich überhaupt in den Film hineinzufinden. Emotional berührt hat mich OUT 1 so gut wie gar nicht. Für mich stellt der Film ein einziges Rätsel dar, das einen zwar ungemein fasziniert, jedoch stets eine viel zu große Distanz zu sich aufbaut, um einen wirklich an es heranzulassen. OUT 1 gleicht einem Füllhorn, die ultimative Gesellschaftsstudie über das Frankreich nach 1968, die zwar nichts wirklich offenlegt, es dadurch aber jedem Zuschauer selbst überlasst, den Film zu seinem eigenen werden zu lassen, und in ihn hineinzuprojizieren, was er möchte. Dass der Film von mir, bei all den Lobpreisungen, die man über ihn findet, nicht die Höchstnote erhält, hat damit zu tun, dass ich mich frage, was für ein Meisterwerk OUT 1 hätte werden können, wenn sein Regisseur sich dazu entschieden hätte, dem Publikum wenigstens eine kleine Nische zu lassen, durch die es tiefer in dem Film hätte vorstoßen können, oder die ausgestreckten Arme, mit denen das Werk einen auf Abstand hält, wenigstens ein bisschen sinken zu lassen.