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Es gibt nicht viele Menschen in der Filmwelt und Politik, die so polarisieren wie Michael Moore. Für die einen ist der Mann mit dem Baseballcap DIE Aufklärung der amerikanischen Missstände schlechthin, während ihn die anderen als den auf das blauäugige Volk zugeschnittenen Polemiker abstempeln. Zugegeben ist es bei genauerem Betrachten nicht einfach, sich für eine Seite zu entscheiden, denn auch hier liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen. SiCKO ist Moores dritter Film im 21. Jahrhundert und die Erwartungen dürfen bei den Zuschauern nach dem starken Bowling for Columbine und Fahrenheit 9/11, dem erfolgreichsten Dokumentarfilm aller Zeiten, hoch sein. Diesmal steht jedoch nicht General Motors, die National Rifle Association oder George W. Bushs Irakpolitik im Fadenkreuz, sondern das Gesundheitssystem der Vereinigten Staaten.

Mit einigen Fallbeispielen läutet Michael Moore die nächste Runde seines politischen Kampfes ein. Gleich zu Beginn erwartet den Zuschauer eine Szene, in welcher ein Amerikaner ohne Versicherung aus Geldknappheit seine Wunde am Arm mit einem Faden selbst zunäht. Der Regisseur aus Flint, Michigan setzt bewusst auf perverse Beispiele in seiner Einleitung, so dass gleich anschliessend ein Mann, der zwei Fingerglieder verloren hat, im Fokus steht. Dieser erzählt, dass er im Krankenhaus vor die Wahl gestellt wurde: Entweder lässt er sich den Mittelfinger für $60'000.- USD oder den Ringfinger für $12'000.- USD wieder richten. Aus finanziellen Gründen entscheidet er sich für den Ringfinger. Es folgen mehrere Beispiele dafür, wie diverse Durchschnittsbürger durch die hohen Kosten einer Operation in den Ruin getrieben wurden und wie schwierig es ist, in den Vereinigten Staaten in den Luxus einer Krankenversicherung zu kommen. Eine reelle Chance darauf soll man laut dieser Dokumentation nur haben, wenn in der Vergangenheit so gut wie keine Anzeichen einer Krankheit vorhanden waren. Damit die Zuschauer auch die andere Seite der Medaille sehen, kommen die Pharmaindustrie und die Versicherungen ebenfalls zu Wort, wobei es sich hauptsächlich um Leute handelt, die sich aufgrund der unmenschlichen Methoden von dieser Branche verabschiedet haben. Da bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erklärt wurde, wie denn das angeprangerte Gesundheitssystem verbessert werden kann, besucht Moore zuerst die Nachbarn aus Kanada und folglich die europäischen Länder England und Frankreich. Die Unterschiede werden schnell dargelegt: In all den besuchten Ländern kosten ein Krankenhausaufenthalt und Medikamente nichts beziehungsweise ein winziger Bruchteil des amerikanischen Preises resultierend aus der Tatsache, dass Krankenversicherungen in Europa und Kanada im Gegensatz zu Amerika obligatorisch sind. Das heisst, dass jeder das Recht auf eine Versicherung besitzt, während es laut den Fallbeispielen in SiCKOs Einleitung für die Amerikaner ein mühsames Verfahren ist, überhaupt von der Versicherung angenommen zu werden. Für den Höhepunkt der Dokumentation wählte Michael Moore den Besuch in Guantánamo, weil die Inhaftierten - darunter einige Mitglieder von Al-Qaida - eine bessere Krankenbehandlung erhalten als die freiwilligen Helfer vom 11. September 2001. Leider funktioniert diese Szene jedoch nur bedingt als Stimmungsexplosition.

Michael Moore hat mit SiCKO ein Werk mit sowohl positiven als auch negativen Punkten geschaffen, wobei hier differenziert werden muss, aus welchem Blickwinkel der Film betrachtet wird. Für uns Europäer wird relativ wenig Neues auf dem Bildschirm präsentiert, da wir einerseits wissen, wie unsere Gesundheitssysteme funktionieren und andererseits bei politischem Interesse auch dasjenige der Amerikaner ansatzweise kennen. Für die Amerikaner, die nur ihr System kennen, wird der Film in dieser Hinsicht bestimmt spannender sein. Doch selbst wenn diese Punkte ausgelassen werden, finden sich noch einige Störfaktoren. So ist es nicht besonders förderlich, dass Moore am Anfang des Films ein Schicksal eines Nichtversichterten nach dem anderen bringt, weil es einerseits zu langatmig ist und schlussendlich immer aufs Gleiche hinaus läuft. In dieser Anfangsspanne hätte der knapp zweistündige Film eine Straffung nötig gehabt. Des Weiteren ist der Film nun mal sehr einseitig, wodurch am dokumentarischen Aspekt leicht gerüttelt wird. Allerdings wird ein Grossteil der Zuschauer ohnehin kein differenziertes Bild von Michael Moore erwarten. Einem Eigentor nahe kommt Moores anonyme Spende von $12'000.- USD an den Betreiber der grössten Moore-Hasshomepage, dessen Frau schwer erkrankt ist. Während es im ersten Moment vielleicht noch lustig wirkt, wie Moore seinem Hasser, der Blogeinträge mit den Worten "Dear Mike, fuck you!" beginnt, eine derartige Spende zukommen lässt, ist es im Grunde moralisch höchst bedenklich, wie der Regisseur ein Thema, das über das Leben einer Frau bestimmt, in den Film einbaut und dadurch eigentlich nur den Zweck verfolgt, diesen Jim öffentlich blosszustellen.

Das klingt jetzt jedoch viel negativer als es überhaupt ist, denn gleich vorab muss gesagt werden, dass die positiven Aspekte auf der Soll-Seite klar überwiegen. Michael Moore schafft es wieder einmal, ein ernstes Thema mit einer grossen Portion Satire und Sarkasmus zu vermischen, was auch eindeutig das Erfolgsrezept von SiCKO ist. Überhaupt zeigt der Regisseur aus Flint einmal mehr, dass er einfach dafür geschaffen ist, Filme zu produzieren. Der Mann besitzt einfach eine immens grosse Portion an Charisma, was den Film trotz seiner Tragik auflockert.
Dass Moore Fakten aus dem Zusammenhang reisst und sie neu zusammenwürfelt ist kein Geheimnis. Solange er das jedoch mit so viel Entertainment hinbekommt und der Zuschauer seine Vorgehensweise kennt, sind seine Filme ein absoluter Genuss. Abschliessend bleibt zu sagen, dass der Zuschauer mit SiCKO tolle Unterhaltung, die sich aus einer Mischung von Dramatischem, Humor, Polemik und Gesellschaftskritik zusammen setzt, geboten bekommt. Mehr davon!

Bewertung:
7.5/10 P.

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