"Chacun son cinéma" ist ein Projekt, dass die Vor- und Nachteile der meisten großen Omnibusfilme aufweist: Die Vielfältigkeit des Ganzen schlägt sich nicht zuletzt im Bereich der Qualität nieder und herausragende Beiträge wechseln sich mit bloß gelungenen und gar enttäuschenden Beiträgen ab, so dass das Werk letztlich nur leicht gehobenen Durchschnitt abliefert.
Durchschnitt ist für einen Film, der Querschnitt sowohl durch die aktuelle weltweite Kinolandschaft als auch durch die vielen Jahrzehnte Kinogeschichte sein will, allerdings ein etwas beschämendes Ergebnis. Dabei klingt das Konzept so vielversprechend: 32 Dreiminüter von 33 Regisseuren (die Gebrüder Dardenne arbeiten zu zweit an einem Beitrag) aus 25 Ländern, die zum 60. Jubiläum der Cannes-Filmfestspiele allesamt das Kino zum Thema haben. (Von David Lynch wurde später noch ein Kurzfilm hinzugenommen, der auf der Kinowelt/Arthaus DVD ebensowenig enthalten ist, wie ein Beitrag der Coen-Brüder - beide kamen wohl zu spät, um noch in das Gesamtwerk integriert zu werden.)
Der Film beginnt [Achtung: Spoiler!] mit der Musik Nino Rotas für Fellinis "Toby Dammit" (1968) - sein Beitrag für den "Histoires extraordinaires"-Episodenfilm - und Federico Fellini ist das Werk auch gewidmet. Und auch der erste Beitrag von Raymond Depardon enthält durchaus noch leise fellineske Töne:
"Cinéma d'Eté" zeigt einfache Jugendliche in der Türkei, die unter freiem Himmel einer Dachterrasse vor einer Leinwand das kommende Filmereignis erwarten. Depardon betont das Gemeinschaftliche einer Filmaufführung, die Blickkontakte und kurzen Gespräche vor Beginn der Vorstellung, auf das kaum bestimmbare, das verschiedene Menschen für kurze Zeit zusammenschweißt, ihnen die gleichen Hoffnungen und Emotionen entlocken kann. Einzelne Gesten und Blicke, kleine Banalitäten hält Depardon fest und steht damit in der Tradition der Kinodarstellung Fellinis. (Man denke etwa an "Amarcord" (1973), "La Citta della Donne" (1980).)
Gänzlich undramatisch und in seinen 3 Minuten Länge durchaus kurzweilig legt Depardon einen leisen Einstieg vor.
6,5/10
"One Fine Day" von Takeshi Kitano gehört zu den etwas belangloseren Episoden. Hier geht ein älterer Mann ins abgelegene Kino, wo er sich Kitanos "Kizzu ritân" (1996) ansieht. Kitano selbst spielt den Mann am Projektor, der die Vorstellung mehrfach unterbrechen muss, weil das Band reißt oder brennt. Ein sanfter Anflug von bitterem Humor durchzieht diesen Beitrag, der inhaltlich und formal gleichermaßen unspektakulär geraten ist.
5,5/10
"Trois Minutes" ist der Beitrag von Theo Angelopoulos, der zu einem der ergreifendsten zu zählen ist. Angelopoulos inszeniert hier eine Begegnung zwischen Jeanne Moreau und Marcello Mastroianni: Moreau betritt ein leeres Kino (Plakate für "O melissokomos" (1986) - Regie führte damals Angelopoulos, Mastroianni war der Hauptdarsteller - und Antonionis "La Notte" (1961) schmücken den leeren Raum; in "La Notte" standen Mastroianni und Moreau damals gemeinsam vor der Kamera) und erblickt vor einer weißen Leinwand Mastroianni (der über 10 Jahre Tote ersteht hier durch Material aus "O Melissokomos" auf). Dieses letzte Aufeinandertreffen dieser beiden Filmgrößen, die arg gealterte Moreau mit ihrem ernsten, traurigen Blick und der tote Mastroianni, ruft nochmal eine vergangene Epoche der Filmgeschichte zum Leben. Die melancholischen Blicke und Moreaus Grüße aus "La notte" steigern die Traurigkeit dieser Szene ungemein (wenngleich sie sich nur den Zuschauern erschließen wird, die eine vergangene Ära des Kinos noch mit Moreau und Mastroianni verbinden). Angelopoulos ist es gelungen, eine sensibele Huldigung zweier Filmstars und eine kurze Wiederbelebung eines toten Stückchens Kinogeschichte zu inszenieren. Auf formaler Seite können noch die ruhigen Kamerafahrten und die unauffällige Montage von altem und neuem Material überzeugen.
7,5/10
"Dans le Noir", inszeniert von Andrei Konchalovsky, greift ebenfalls nochmal Mastroianni auf, aber auch Fellini. In dieser Episode betrachtet die Protagonistin zu Beginn die letzten Minuten von "Otto e mezzo" (1962) in einem fast leeren Kinosaal. Gleich nach Ende des Films bittet sie den Vorführer um eine weitere Vorführung des Films - von zwei jungen Leuten, die einige Reihen hinter ihr einen Quickie vollziehen, nimmt sie kaum Notiz. Während sie wieder in Fellinis Film versinkt, verziehen sich die beiden Teenager lachend ins Freie. Konchalovskys Episode ist fast ebenso ärgerlich wie erfreulich geraten: melancholischen Witz, sympathisch kauzige Außenseiterfiguren (man fühlt sich leicht an Kaurismäki erinnert) sind ihr nicht abzusprechen, die aus "Otto e mezzo" stammende Musik Rotas tut ein übriges... ärgerlich ist aber die Trennung zwischen jungen Kunstbanausen, die ihr Leben genießen und gereiften Cineasten, die im Kino vereinsamen; hier mischt sich die Sentimentalität der Alten mit der Selbstironie eines Cineasten und dem pessimistisch dargereichten Vorurteil, dass Klassiker der Filmgeschichte bei den jüngeren Generationen ausschließlich auf Desinteresse stoßen - daraus gewinnt Konchalovsky zwei Klischeebilder, von denen er offenbar selbst nicht genau weiß, wie ernst er sie nehmen will.
Unterhaltsam mit etwas unschönem Beigeschmack.
6/10
"Diaro di uno Spettatore" ist Nanni Morettis Beitrag und der erste, der einen ganz neuen Tonfall anschlägt. Moretti spielt sich selbst und führt gewohnt hibbelig durch die Kinos und Filme seines Lebens. Voller Vitalität lobhudelt er "Rocky" (1976) und spricht unbeschwert die anderen Sehgewohnheiten seines kleinen Sohnes an, der zwar weiß, dass sein Vater eher Filme mag, die anders sind, aber dennoch mit seinem Vater "Matrix" (1999) sehen will. Die Art und Weise mit der Moretti heiter über Unterschiede zwischen Autorenfilmen und Mainstreamfilmen hinwegsieht, mit der er aufgeschlossen anderen Seherfahrungen gegenübersteht passt zum vergleichsweise bunten Beitrag, der durch Morettis Spiel auch zu einem der lebendigsten gerät. Dass das Ganze bloß Mittel zur Selbstinszenierung ist und zudem sehr betont die kleinen, recht konstruiert wirkenden Pointen ansteuert, fällt wegen des relativ rasanten Tempos kaum negativ auf.
6,5/10
"The Electric Princess House" von Hou Hsiao-Hsien fällt stimmungsmäßig wieder in die vorangegangene Melancholie zurück: in sanft getrübten, matten Farben wird zunächst das Eintreffen einer Familie vor einem Kinopalast gezeigt. Kontrastierend zu diesem minimalistischen, idyllischen Bild gerät dann der Gang ins Kinoinnere: die farblichen Kontraste sind härter, das Motiv ist weniger idyllisch und präsentiert einen spärlich ausgestatteten, vom Tageslicht durchdrungenen Kinosaal, in dem auf einer ganz kleinen Leinwand Bressons "Mouchette" (1967) läuft. Will man das Kino als kurzweiligen Ausbruch aus der Realität sehen, muss diese kleine Leinwand im recht unwirtlichen Umfeld bestürzen. Der Filmausschnitt Bressons muss sich gegen die harte Wirklichkeit behaupten und wirkt dadurch noch feiner, liebreizender und zerbrechlicher.
Hsiao-Hsien legt keinen Wort auf Dramaturgie und hält nur weitestgehend aktionslose Augenblicke fest, um die Macht des Kinobildes zu feiern, das sich diese auch unter einfachsten Vorführbedingungen zu bewahren weiß.
7/10
"Dans l'Obscurité" zeigt unter der Inszenierung von Jean-Pierre und Luc Dardenne einen Taschendieb im Kino, der einer Zuschauerin (die der Filmmusik nach zu urteilen "Au hasard Balthazar" (1966) anschaut) nach der Geldbörse trachtet. Sein Griff in die Handtasche kreuzt sich jedoch mit ihrem Griff nach dem Taschentuch, der Skandal bleibt jedoch aus: mit der Hand des beinahe-Diebes entfernt sie ihre Tränen und verschafft sich etwas menschliche Nähe. Die Dardennes verweisen darauf, dass man im Kino bisweilen die Welt um sich herum völlig ausblenden kann, aber eben auch darauf, dass Filmsichtungen Denken und Handeln zumindest teilweise beeinflussen können - wie eben ein Bresson, der in diesem Fall die Annäherung zwischen Dieb und Opfer ermöglicht. Dass das Geschehen in dieser Form jedoch überzogen ist, das ist den Dardennes durchaus klar und so inszenieren sie den Kurzfilm humoristisch auf die milde Pointe hin - ihr Beitrag ist eine augenzwinkernde Utopie, eine Liebeserklärung an Bresson und ein etwas seichter Gag zugleich.
6,5/10
"Anna" von Alejandro González Iñárritu ist sicherlich der ergreifendste Beitrag, der zudem auch am geschicktesten die Magies des Kinos zu thematisieren weiß. Im dunklen Kinosaal hört man Delerues Musik und Dialoge aus "La Mepris" (1963), eine Männerstimme fasst das Bildgeschehen zusammen, während sich auf der Bildebene zwei Hände von Mann und Frau berühren. Die Kamera fährt an der Frau nach oben, sie ist offenbar blind, ihr Partner hilft ihr (und sicherlich auch einigen Zuschauern dieser Episode, die Godards Werk - das zwar zu hören, aber nicht zu sehen ist - nicht kennen) durch den Film, der sie sichtlich ergreift. Schließlich steht sie auf und verlässt den Saal vor Ende der Vorstellung. Das Bild wird grell als sie ins Freie tritt, Delerues Musik verstummt und macht dem Straßenlärm Platz. Dann kommt ihr Freund hinzu und für wenige Sekunden einer Umarmung übertönt Delerue noch ganz kurz die lärmende Geräuschkulisse. Ganz kurz blitzt im Alltag nochmal das Filmerlebnis auf, eine reflexartige Erinnerung, die einen überkommt um sofort wieder brutal abgewürgt zu werden. Sicherlich lebt Iñárritus Beitrag vor allem von der Musik und der Hauptdarstellerin; aber die Art und Weise, auf die er Kinoerlebnis und Alltag gegenüberstellt, das Fortwirken eines Kunstwerkes nach der Sichtung inszeniert und die Einfühlsamkeit, mit der er zeigt, dass Film (zumeist als ein vor allem visuelles Medium beschrieben) auch Blinden noch etwas zu geben versteht, sind nicht zu unterschätzen.
8/10
"En Regardant le Film" von Yimou Zhang zeigt einen Kinoabend unter freiem Himmel in einer kleinen Dorfgemeinschaft. Nachdem sie sich den gesamten Tag über auf das Ereignis gefreut hat, schläft die Hauptfigur des Films - ein kleiner Junge - ein, als es endlich soweit ist. Aber das unfreiwillige Schattenspiel der Veranstalter auf der Leinwand ihres beleuchteten Zeltes hat ihm zumindest einen Kinoersatz geboten. Ein schön gefilmter, sehr ruhiger Beitrag, der eher auf Situationkomik und weniger auf Pointen setzt, dem Humor aber sowieso die Melancholie überordnet.
6/10
"Le Dibbouk de Haifa" von Gitai stößt - vermutlich weil er viel voraussetzt, aber seine Voraussetzungen nicht gänzlich offenlegt - zumeist auf schroffe Ablehnung. Dabei gehört sein Beitrag durchaus zu den stärkeren: Er beginnt 1936 in Warschau, wo gerade "Der Dibuk" (1937) läuft. (Hier muss sich Gitai im Erscheinungsjahr geirrt haben, an den Bildern ist aber eindeutig zu erkennen, dass es sich um Michal Waszynskis Verfilmung handelt.) Nach der Hälfte der Laufzeit wechselt der Film über langsame Überblendungen nach Haifa, 70 Jahre danach, wo Teile des Publikums einem Anschlag zum Opfer fallen. Was beide Teile eint, das ist die andauernde Mehrfachbelichtung, die zwei oder gar 3 Bildebenen parallel übereinander ablaufen lässt (einmal die Leinwand, zweimal das Publikum aus verschiedenen Perspektiven), das ist aber auch Waszynskis Film, der beide Male gezeigt wird, und auch die Darsteller, die jeweils dieselben sind.
Gitai bezweckt gleich mehrfaches damit: Durch die inszenatorische Nähe rückt er das Leben der Juden in Israel in die Nähe der in diesem Fall polnischen Juden (wenige Jahre vor dem Holocaust), er betont also andeutungsweise die Geschichte der Gegenwart, die diese bedingt. Doch über die angerissene Geschichte der Juden geht der Film hinaus und kommentiert sie über die Kunst. Denn die Bedeutung der Toten des Holocaust für die Geschichte Israels spiegelt Gitai über Waszynskis "Dibuk", in dem die zu früh verstorbenen Toten von den Lebenden Besitz ergreifen können. Dieses Besitzergreifen (diese Beeinflussung der Gegenwart durch die Vergangenheit) deutet Gitai in seinen Mehrfachbelichtungen an, in denen sich nicht selten schemenhafte Gesichter über die Gesichter von anderen schieben und zwar auch über den Zeitsprung von 70 Jahren hinweg. Indem er Vergangenheit und Gegenwart gleichzeitig auf einer Ebene präsentiert, kräftigt er das Verhältnis von Vergangenheit (Ursache) und Gegenwart (Resultat). Doch zu diesem Kommentar gesellt sich noch ein weiterer Kommentar, der vor allem an der Mehrfachbelichtungen jenseits dieses Zeitsprunges festzumachen ist. In diesen betont Gitai den manipulativen Charakter (im positiven Sinne) der Kunst bzw. ganz besonders des Films, der verschiedenen Leuten in einem Raum zeitgleich ähnliche Gedanken und Emotionen entlockt. Hier werden Gesichter nicht über Zeit-, sondern über Raumgrenzen hinweg übereinandergelegt: die kurze Distanz zu den Sitznachbarn wird somit völlig getilgt, das Kinofilmerlebnis nähert die Betrachter einander in extremer Form an. Das Kollektiverlebnis des Films arbeitet er ebenso hervor, wie später nochmal Ming-liang Tsai, doch wo dieser auf das Traumhafte des Films verweist, nähert sich Gitai dem Thema über filmische Techniken, über die formale Seite an.
Zusammen mit der sogartigen Musik aus "Dibuk" ergibt Gitais polyvisuelles Filmbild (das so extrem verschiedene Motive mischt, dass es in die Nähe zu Godards "Histoire(s) du cinema" (1989-1998) gerückt werden kann) ein sehr dichtes, atmosphärisches Werk ab, das inhaltlich so vielschichtig ist, wie es die Laufzeit zulässt. Dass Gitai nicht mit offenen Karten spielt und sich recht kryptisch gibt ("Dibuk" etwa ist zumindest so unbekannt, dass er wenigstens hätte angeben können, um welchen Film es sich handelt) fällt dabei allerdings negativ auf.
6,5/10
"The Lady Bug" fällt als schrille Gender-Satire Jane Campions formal und inhaltlich etwas aus dem Rahmen und entpuppt sich leider als eine der schwächsten Episoden. Formal durch wenig überzeugende Trickeffekte schon arg geschwächt, bietet der immerhin phantasievolle Film auf inhaltlicher Ebene nur bedingt Ausgleich, obwohl Campion mit der Thematik bereits sehr erfahren war: während sich ein weibliches Insekt bzw. eine Miniaturfrau im Insektenkostüm in einem Kinosaal künstlerisch entfalten will, ist ihr ein grober Kammerjäger auf den Fersen, um ihr am Ende ihres Tanzes den Unterleib zu zerquetschen. Auf der Tonspur entfaltet sich derweil ein Gespräch über Männerrollen, in dem etwa Clint Eastwood sein Fett abbekommt. Bedenkt man, dass Campion die einzige Regisseurin unter 34 bzw. 35 männlichen Kollegen ist (und das, obwohl etwa mit Catherine Breillat, Claire Denis, Asia Argento, Kathryn Biegelow, Monika Treut, Lina Wermüller, Agnès Varda, Liliana Cavani, Chantal Akerman, Anne Marie Mieville, Margarethe von Trotta, Vera Chytilová durchaus mehr als genug interessante Filmemacherinnen existiert haben), so ist das Anliegen durchaus ernst zu nehmen, wird Campions Anklage damit deutlich bekräftigt. Da Campion jedoch über die bloße Anklage hinaus nichts weiter abliefert (außer heiter-schrille Bilder) und ihr feministisches Anliegen zudem noch darauf abzielt, traditionellen Geschlechterbildern eher zuzustimmen anstatt sie zu hinterfragen (der Auftritt der Insektendame unterscheidet sich zudem nicht mal sonderlich von jahrzehntelanger US-Musical-Tradition), gesellt sich zum formal wenig beeindruckenden bis mangelhaften Stil noch ein flauer Gehalt.
5/10
"Artaud Double Bill" von Egoyan ist von der Struktur her eines der interessantesten Werke und obwohl auch Egoyan zu denen zählt, die sich hier selbst zitieren, wirkt sein Zitat im höchsten Grade bescheiden. Zwei Freundinnen gehen ins Kino, jedoch in verschiedene Filme; die eine sieht Godards "Vivre sa vie" (1962), die andere Egoyans "The Adjuster" (1991). In bisweilen irritierender Weise schneidet Egoyan zwischen den vier Kinosälen (einer für jede Vorführung, einer aus dem Film "The Adjuster" und einer aus "Vivre sa vie", in welchem Anna Karina mit dicker Träne auf der Wange Dreyers "La passion de Jeanne d'Arc" (1928) schaut) hin und her, lässt die Filme im Film sich gegenseitig kommentieren und reichert das Ganze mit einer Unterhaltung der Freundinnen an, die sich über Antonin Artauds Auftritt in Dreyers Film unterhalten. Dreyer (oder Artaud) stiehlt Egoyans "Adjuster" dann die Schau, denn über moderne Handytechnik schauen schließlich doch beide Freundinnen den Dreyer. Das Spiel mit den Ebenen und die kommentierende Montage, die Sinnzusammenhänge zwischen verschiedenen Filmen herstellt, verleihen diesem Film, der im Grunde eine Huldigung an Dreyer darstellt, eine Komplexität, die gerade angesichts der kurzen Laufzeit beeindruckend ist.
6,5/10
"La Fonderie" ist gewohnte Kaurismäki-Kost. Schuftende Arbeiter verlassen ihren tristen Arbeitsplatz und lösen ihr Ticket für eine Kinovorführung. Kaurismäki hütet sich davor, "Sullivan's Travels" (1941) nachzueifern und das Kino als lebensverschönernden Lichtblick hinzustellen, der die Ärgernisse des Alltags problemlos auszugleichen weiß. Hier geht es nicht darum, das schöne Filmerlebnis zu feiern, sondern eher die Traurigkeit einzufangen, die im Kontrast von Filmwelt und Wirklichkeit liegen kann (und den gibt es, obwohl auch im Film, der gezeigt wird, Arbeiter die Fabrik verlassen; dafür sorgt schon die zeitliche Distanz). Kaurismäki fängt allerdings nur diese Stimmung ein und entwickelt keine Folgerungen. Verantwortung der Filmemacher und Funktion des Kinos werden höchstens indirekt angerissen, aber nicht ernsthaft problematisiert, wofür die 3 bis 4 Minuten aber auch kaum ausgereicht hätten.
6,5/10
"Recrudescence" - der Titels der Episode von Assayas - bezeichnet das erneute Auftauchen von Krankheitssymptomen, die beinahe verschwunden waren. In diesem Werk dürfte die Krankheit wohl Liebeskummer sein: eine junge Frau trifft sich mit ihrem Date im Kino, verfolgt von einem Mann, der sie ständig beäugt. Als sie im Kino mit ihrem Begleiter küsst und fummelt, nimmt der Verfolger ihr Handy an sich und als er dann ihren - über das Handy des Dates erfolgenden - Anruf erhält, meldet er sich mit "Ich bins...". Assayas legt ein Miniaturdrama über Sehn- und Eifersucht vor, verfehlt dabei jedoch das Thema ein wenig, denn im Hinblick auf dieses liefert Assayas allenfalls die Erkenntnis ab, dass Verliebte im Kino gut schmusen und Diebe im Kino leicht stehlen können; Insofern hebt sich diese Episode ein wenig von anderen ab, ist ansonsten aber ein solider Kurzfilm und größere Höhen und Tiefen.
6/10
"47 Ans Après" gibt Youssef Chahine Gelegenheit, sich selbst ins rechte Bild zu rücken. Der Film beginnt mit einer 1954 stattfindenden Filmvorführung, bei der er selbst eher zurückhaltende Kritikerstimmen erntet, und endet 1997, als Chahine längst eine Größe im Filmgeschäft darstellend für sein Lebenswerk ausgezeichnet wird und junge Künstler ermutigt. Dieses Aufmuntern am Ende ist sicherlich etwas zu optimistisch geraten, manch einem wird diese Episode, in der sich Chahine am Ende feiern lässt, auch reichlich selbstherrlich erscheinen (unter anderem sicherlich auch deshalb weil Chahine zumindest hierzulande einer der unbekannteren Regisseure von "Chacun son cinéma" sein dürfte), kann aber als unbeschwerter Lebensrückblick, der Vergangenes im Nachhinein deutlich leichter nimmt, durchaus noch gefallen.
6/10
"It's a Dream" ist der Beitrag von Ming-liang Tsai, der die populären Thesen der Ähnlichkeit zwischen Kinobesuch und Traum, vom Kinobesuch als kollektivem Traumerlebnis in Ansätzen aufgreift. In einem Traum sitzt er als junge mit seinem noch recht jungen Vater und der bereits alten Mutter im Kino, zusammen mit einem Bild der ins Kino vernarrten Großmutter, die später auch als junge Frau auftauchen wird. Gemeinsam schauen sie dann einen Film von dem der Zuschauer nichts sieht, als Zuhörer aber ein Lied über Erinnerung, Traum und Wirklichkeit zu Gehör bekommt. Nicht zuletzt dank dieser Melodie klingen in dem Beitrag vor allem die leisen Töne an, während darauf verwiesen wird, dass Filme immer an etwas erinnern (an das, was in ihnen ist aber - das liegt Ming-liang Tsai mehr am Herzen - auch an Vorführbedingungen bei zurückliegenden Sichtung), dass das Kino der Ort einer vorgegaukelten Wirklichkeit ist. Inhaltlich gibt es mehr Anreize als stringente Überlegungen, die Melancholie und Nostalgie dieses Beitrages fällt dafür sehr beeindruckend aus.
7/10
"Occupations" ist Lars von Triers Beitrag, der Gefühle schildert, die jeder Cineast kennen dürfte, der mal mit einem nervigen Sitznachbarn auskommen musste. Von Trier sitzt hier in einer Vorstellung von "Manderlay" (2005) und wird unaufhörlich von einem Geschäftsmann bedrängt, der von seinen 8 Autos, der Lederindustrie und seinem Talent als Geschäftsmann spricht. Schließlich steht er auf und haut seinem Sitznachbarn den Schädel mit einem Hammer im wahrsten Sinne des Wortes zu Brei; das restliche Publikum reagiert verhalten schockiert, billigt den Vorfall jedoch bedingungslos.
Womöglich ist dieser Beitrag recht elitär ausgefallen (unter der augenzwinkernden Inszenierung steckt nunmal die Vorstellung einer Filmsichtung, bei der das Interesse voll und ganz dem Film gilt - was legitim und in der Regel sinnvoll ist, zugleich aber auch herrisch und gebieterisch) und sicherlich nicht ganz frei von Narzissmus, entschädigt aber durch seinen kruden Humor und drastischen Splattereinschlag und hebt sich erfrischend aus seinem Umfeld hervor.
7,5/10
"Le Don" stammt von Raoul Ruiz und trägt gewohnt surreale Züge. Hier sitzt ein blinder Kinonarr mit seiner Nichte im Kino und erzählt ihr, wie er früher als Missionar einer Gruppe von Indianern ein Radio und einen Projektor überbracht habe. Diese zerstören die Geschenke, bauen sie aus Holz wieder auf und zwei Jahre später sieht der Missionar bei ihnen nach einem halluzinogenen Tee in 3 Minuten "Casablanca" (1942) und ist anschließend ein blinder Atheist. In dieser Episode gesellt sich zu Parodie auf Missionarstätigkeiten noch Ruizsches Münchhausentum, wie er es etwa in seinem "Trois vies & une seule mort" (1996) schon gemacht hat, wo Marcello Mastroianni von zeitraubenden Elfen erzählte. Ein extremer Mix aus s/w und Farbe, surrealen Motiven wie einem kinosaalgroßen Holzradio und dem Wechsel zwischen Kinosaal und Leinwand ergänzt dann die seltsame Handlung um Ruiz-typische formale Extravaganzen.
6/10
"Cinéma de Boulevard" ist Lelouches Beitrag, der zu den gelungeneren zählt. Anhand von Kinobesuchen fasst er Stationen im Leben seiner Eltern und auch des eigenen Lebens zusammen. Das beginnt mit dem ersten Zusammentreffen der Eltern in einem Ginger Rogers & Fred Astaire Film, zieht sich über Schwangerschaft, Tod des Vaters, Erfolg Lelouches, über Renoirs "La grande illusion" (1937), Mikhail Kalatozovs "Letyat zhuravli" (1957) und Lelouches "Une homme et une femme" (1966) bishin zum gemeinsamen Kinobesuch von Mutter und Sohn, bei dem nochmal der Film läuft, der beide Elternteile vor Jahrzehnten zusammengebracht hatte. Lelouches Beitrag ist äußerst berührend geraten, ohne angestrengt melancholisch oder sentimental aufgezogen worden zu sein. Der Lebens- und Filmgeschichte im Schnelldurchgang haftet das traurig stimmende Element bereits an und gerade weil Lelouch es niemal betont, sondern eher Lebenslust versprüht, kommt es zum Tragen, ohne dass es dabei aufdringlich wird.
7/10
"First Kiss" ist - wenn man bedenkt, dass der Beitrag von Van Sant stammt - eine kleine Enttäuschung. Der Kurzfilm vom Jüngling, der in die Kinoleinwand zur aufreizenden Strandschönheit hineinsteigt ist weniger eine intelligente Beschäftigung mit den Fantasien, die das Kino hervorrufen kann, (und schon gar keine Untersuchung von sexistischen Tendenzen in manchen Produktionen) sondern vielmehr ein Kurzfilm, der bereits zigfach dagewesene Werbespots plagiiert, die diesen Gag ihrerseits bereits intelligent parodiert haben.
5,5/10
"Cinéma Erotique" von Polanski ist eine weitere Enttäuschung: der Film präsentiert ein älteres Ehepaar, das im Kino "Emmanuelle" (1974) schaut und sich von einem vermeintlichen Sittenstrolch belästigt fühlt, der ein paar Reihen hinter ihnen pausenlos herumstöhnt. Noch bevor sich die Frau beim Mann beschwert, dieser bei einer Mitarbeiter, welche schließlich den Chef herbeiruft, dürften die meisten Zuschauer die Pointe bereits erraten haben: der Fremde stöhnt infolge einer Verletzung. Formal belanglos in Szene gesetzt steuert der Film zwar geradlinig auf eine Pointe zu, die jedoch übermäßig abgestanden ist.
5/10
"No Translation Needed" von Cimino zeigt einen Regisseur, der den gefilmten Auftritt einer singenden Kubanerin derartig wüst zusammenschneidet, dass sie ihm anschließend im wahrsten Sinne des Wortes an die Kehle geht. Der Film ist sicherlich kurzweilig und turbulent, macht sich auch ein wenig über Starallüren lustig, viel mehr bietet er aber auch nicht.
5,5/10
"At the Suicide of the Last Jew in the World in the Last Cinema in the World" heit Cronenbergs Kurzfilm, der so originell ist wie sein Titel ungewöhnlich. Cronenberg spielt hier in einer Zukunft öffentlicher Hinrichtungen und des Sensationsjournalismus, in der nur noch ein einziges - heruntergekommenes, vermülltes und dem Untergang geweihtes - Kino existiert, den letzten Juden, der sich vor den Kameras sensationsgeiler, antisemitischer und kunstfeindlicher Reporter umbringen wird, nachdem dubiose Organisationen dem jüdischen Cineasten auf der Spur sind. Auf der Tonebene entwickelt er einen zynischen Humor, der die ganze effekthascherische und antisemitische Berichterstattung durchzieht, auf der Bildebene gibt es schmerzlich-unangenehme Bilder eines heruntergekommen Cronenbergs, der sich seine Waffe abwechselnd an Schläfe, an das Auge, in den aufgerissenen Mund hält... ein entsetzlich lang gedehntes Todesspiel, dessen Finale Cronenberg dem Zuschauer vorenthält; gerade darin liegt nochmal eine ganz besondere Qualität des Streifens, denn dieser unspektakuläre Schluss (kein Splatter vom einstigen Baron of Blood) entspricht der Erwartungshaltung der Zuschauer wohl ebensowenig, wie die auf den Todesschuss hinarbeitende Berichterstattung ihr hingegen gerecht wird. Damit wird der Film unangenehmer, als er es durch jeden Gore-Effekt hätte werden können.
Insgesamt ein inhaltlich und formal interessanter Beitrag, der allerdings in der Überschneidung von Antisemitismus und Filmfeindlichkeit etwas naiv wirkt.
7/10
"I Travelled 9000 km To Give It To You" ist ein Zitat aus Godards "Alphaville" (1965), den Wong Kar-wai in seinem Beitrag laufen lässt. (So weit ist Constantine gereist, sagt er dort, um Karina ihr Feuer zu geben... vielleicht ist aber auch die Entfernung gemeint, die "Alphaville" von Godard bis Wong Kar-wai zurückgelegt hat...) Während Eddie Constantine und Anna Karina sich auf der Tonebene einander annähern, kommen sich im Kinosaal ein Man und eine Frau näher: tastende Hände in Großaufnahme, zögernd und vorsichtig, nervöse Beine, unsichere Gesichter, danach stürmische Umarmungen - alles in satten dunkelroten Farbtönen eingefangen; Wong Kar-wais Film ist von allen vielleicht der erotischste mit seiner ziemlich intensiv vermittelten Sinnlichkeit, den Godard-Liebhaber wird auch die Tonkulisse zusätzlich zu begeistern wissen
7/10
"Where is my Romeo?" ist Kiarostamis Beitrag, der die etwas naive These vertritt, dass in erster Linie Frauen Interesse an emotionalen Filmen zeigen. Gemäß dieser These führt er dann das weibliche Publikum einer Romanze vor: Frauen jeden Alters, mit schmachtenden Blicken und kullernden Tränen. Dass sich Kiarostami so detailliert dem Publikum widmet, ist sicherlich positiv zu vermerken. Dass er die Macht eines Filmes über die Emotionen des Publikums betont, wird dem Thema gerecht - krankt dann aber am überholten Frauenbild und kippt aufgrund schluchzender Frauengesichter in Großaufnahme - endlos aneinandergereiht - leicht ins Lächerliche, zumal alle männlichen Zuschauer völlig ungerührt in ihren Sitzen hocken.
5,5/10
"The Last Dating Show" ist eine Komödie von Bille August, der hier das Beispiel einer idealen Filmvorführung in Szene setzt und rassistische Schläger im Kino an eine junge Dame aus dem Ausland und ihr Date geraten lässt. Zunächst eskaliert die Situation, am Ende jedoch sind alle Beteiligten so sehr vom Film gefangen, dass die Schläger der jungen Frau sogar bei Übersetzungsproblemen behilflich sind. Augusts Film beginnt zunächst recht ernst und nutzt diese Stimmung durchaus zum Spannungsaufbau, dann wird die Handlung klischeehaft, was jedoch nicht negativ auffällt, da der Film von diesem Punkt an auf die humoristische Schiene wechselt. Die Episode steht der Dardenne-Episode inhaltlich recht nahe, übersteigert aber die Macht des Kinos noch stärker und schlägt die komischen Töne stärker an.
6/10
"Irtebak" gibt Suleiman einmal mehr Gelegenheit, sich als Nachfolger von den großen Filmkomikern wie Buster Keaton zu erweisen: als anwesender Regisseur bei einer Kinovorführung tritt er in so mancherlei Fettnäpfchen, die er stoisch über sich ergehen lässt. Seine Inszenierung legt viel Wert darauf, diese peinlichen Situationen stark zu dehen und sie somit vollkommen auszukosten. Ergänzt wird der Beitrag durch den Humor im Stile Jacques Tatis: wenn etwa Leute das Kino verlassen, schauen Figuren auf der Kinoleinwand so, dass es wirkt, als würden sie den Personen dabei zuschauen. Von den humoristischen Episoden erweist sich seine als eine der besseren, nicht zuletzt weil die durchgehaltene Situationskomik viel ergiebiger ist, als das 2-3minütige Ansteuern einer Pointe, die in den meisten Fällen auch immer recht altbacken ausgefallen ist.
6/10
"Rencontre Unique" stammt von de Oliveira, der zu diesem Zeitpunkt bereits fast 99 Jahre alt war. Auch in diesem Spätwerk schwächelt de Oliveira ein wenig und legt nicht unbedingt sein bestes Werk vor. Sein als Stummfilm konzipierter Film, der Chruschtschow und Papst Johannes XXIII auf der Leinwand vor dem Kinopublikum aufeinandertreffen lässt, ist mit Michel Piccoli (der schon häufiger bei de Oliveira zu sehen war - erst ein Jahr zuvor in dessen Bunuel-Hommage "Belle toujours" (2006)) interessant besetzt, bietet ansonsten aber eher wenig. Dass gerade der 1908 geborene Regisseur eine so unbefriedigende Stummfilm-Kopie vorlegt, die jeder Hobbyfilmer authentischer anzufertigen weiß, ist im Hinblick auf die Form schon eine ziemliche Enttäuschung. Leider reißt auch der Inhalt kaum etwas raus, denn Piccoli (der sich seit etwa der Jahrtausendwende so sehr verändert hat, dass man ihn mit seinem früheren Erscheinungsbild kaum noch zusammenbringen kann) spielt den irritierten Chruschtschow recht amüsant und wenn der Papst auf seine Leibesfülle hinweist, die er mit ihm selbst gemeinsam habe, ist die absurde Komik der Situation nicht zu übersehen. Insgesamt überwiegt aber Leerlauf, was bei dieser Laufzeit besonders unangenehm auffällt... Als Piccoli-Liebhaber bekommt man durchaus noch einen liebenswerten Auftritt geboten, als de Oliveira-Liebhaber wird man von der laschen Regie enttäuscht. (Zudem ist "Liebe zum Kino" hier weniger Thema und eher die Form...)
5,5/10
"A 8 944 km de Cannes" entpuppt sich als schwacher Beitrag von Salles, in dem nur das musikalische Talent der beiden Darsteller beeindrucken kann: Zwei Brasilianer stehen vor einem Kino, in dem Truffauts "Les quatre cents coups" (1959) läuft; ein Gespräch entwickelt sich, in dessen Verlauf der eine behauptet (eine Lüge, wie sich zeigen wird), er sei einmal in Cannes gewesen, während der andere bestreitet, dass es dort schöner sein kann als in der Heimat. Ein Gespräch, das zudem in Sprechgesang verfällt, rasant vorgetragen und zungenbrecherisch. Dass Salles die Rolle des Kinos innerhalb dieser Ode an das Kino mit seinem Beitrag etwas kleiner halten will, ist durchaus eine sympathische Geste. Dass er als Brasilianer jedoch ein Klischeebild vermittelt, dass singende, fröhliche Gestalten präsentiert, die wenig haben, aber auch nicht mehr wollen und brauchen und wunschlos zufrieden sind, kann einen dann aber doch verstimmen.
5/10
"War in Peace" ist der Beitrag von Wim Wenders, der sich wie Kiarostami auf Zuschauergesichter in Großaufnahme konzentriert, dabei jedoch einen deutlich interessanteren Beitrag abliefert. Wenders filmt Besucher eines Kinos im Kongo (ein kleiner Fernseher, vor dem sich reihenweise Zuschauer versammelt haben), die sich "Black Hawk Down" (2001) anschauen. Wenders hat wohl den dokumentarischsten aller Beiträge abgeliefert, der dabei nichts erklärt oder kommentiert, dafür jedoch recht betroffen macht.
7/10
"Zhanxiou Village" stellt zwei Formen des Kinobesuches gegenüber, zwischen denen etliche Jahrzehnte liegen. Kaige Chen lässt erst Kinder im Freien auf kleiner Leinwand einen Chaplin betrachten, der auch nur läuft, weil sie kräftig in ihre Fahrradpedale treten um den Projektor anzutreiben; danach folgt ein steriler Kinosaal der Gegenwart, sauber und mit riesiger Leinwand und Polstersesseln ausgestattet. Dass diese neuen Kinos ihre Vorzüge haben, bestreitet Kaige Chen dabei nicht, dass in ihnen das Gemeinschaftserlebnis immer stärker in die Ansammlung vieler individueller Erlebnisse zerfällt, dass die Rezeption eine ganz andere Form entwickelt hat, lässt er aber spürbar werden und dabei auch ein wenig Wehmut anklingen.
6,5/10
"Happy Ending" ist der letzte Beitrag und stammt von Ken Loach. Wie Moretti konzentriert sich auch Loach nicht bloß auf die Cannes-tauglichen Streifen und wie Salles erinnert Loach daran, dass das Kino nicht alles im Leben ist: bei ihm stehen Vater und Sohn in der Kinoschlange, auf der Suche nach dem richtigen Film. Das Programmheft hilft dabei kaum weiter, die Ratschläge und Kommentare anderer Kinogänger auch nicht und schließlich gehen sie dann doch lieber Fußballspielen. Ein - wie von Loach nicht anders gewohnt - recht menschlicher Film, der mit der nicht unbedingt überragenden Pointe und dem schlichten Stil bei seiner Laufzeit einfach keinen nachhaltigen Eindruck hinterlassen wird.
6/10
Dies ist die Reihenfolge der Filme, die entstanden sind, ohne dass sich die Regisseure untereinander abgesprochen haben. Die Beiträge von Coen und Lynch bleiben als zu spät eingegangene außen vor und müssen fernab der ursprünglichen "Chacun son cinema"-Fassung als zwei einzelne Beiträge betrachtet werden.
"World Cinema" ist der Beitrag der Coen-Brüder, in denen Josh Brolin sich als Kinozuschauer zwischen "Iklimler" (2006) und "La règle du jeu" (1939) entscheiden muss und dabei nicht gerade den Anschein erwckt, als könnten ihm die Filme (die ihm auch beide nichts sagen) gefallen. Diese Befürchtung hat auch der Kartenverkäufer, doch siehe da: kaum ist der Film ("Iklimler") vorbei, kommst Brolin tief beeindruckt aus dem Kinosaal. Brolin als bizarrer tough guy mit Cowboy-Outfit und Porno-Schnäuzer ist bestens geeignet um auch den Witz der Dialoge der Coen-Brüder perfekt herauszuarbeiten, der genüsslich mit dem Klischee des Kunstfilmpublikums und seinem Gegensatz spielt und die Grenzen dazwischen aufbricht.
7/10
"Absurda" ist eine ziemlich undurchsichtige Mordgeschichte von David Lynch, wobei der Zuschauer auf der Leinwand sowohl Kinosaal als auch Kinoleinwand zu sehen bekommt und beide Ebenen wechselseitig ineinander übergehen. Das Ganze wird angereichert mit einigen Lynchismen (viel Rauch, Lichtflackern und krude Geräuschkulissen) und liegt irgendwo zwischen "Lost Highway" (1997) und "Inland Empire" (2007), was die Atmosphäre betrifft - in den 2,5 Minuten des Films entfaltet sich die Handlung jedoch noch irritierender als in den langen Spielfilmen.
6,5/10
Insgesamt ist die Mischung relativ ausgeglichen, traurige und heitere Episoden halten sich etwa die Waage, wobei die heiteren zumeist daran scheitern, dass sie voll und ganz auf altbekannte Pointen setzen - allen voran Van Sant und Polanski. Inhaltliche Wiederholungen zwischen Episoden lagen auf der Hand, hatten sich doch die Regisseure untereinander nicht abgesprochen.
Etliche der Filme profitieren vor allem durch Ton- und Bildzitate von Klassikern der Filmgeschichte; für die meisten Zuschauer, die ein "La mepris" oder "Otto e mezzo" zu schätzen wissen, ist so ein unverhofftes Wiedersehen mit dem ein oder anderen Klassiker sicherlich ein überrumpelndes, erfreuliches Moment, das einiges herauszureißen vermag, zumal diese Filme nicht selten unter nicht gerade idealen Vorführbedingungen laufen (auf Handy-Displays, bei Tageslicht, auf Mini-Fernsehern, auf Bettlaken im Freien), was die traurige Wirkung noch etwas verstärkt, da sie so noch ferner scheinen, die Sehnsucht noch größer ist.
Der Ausklang ist dann deutlich heiterer und wird von Bildern aus "Le silence est d'or" (1947) von René Clair begleitet. Nach dem "Happy Ending" von Loach ein wirklich versöhnliches Ende nach einem manchmal doch sehr wehmütigen Rückblick durch die Kinogeschichte.
6/10 für das Gesamtpaket.