Dass noch niemand zu diesem kleinen Meisterwerk ein paar Zeilen verloren hat, verwundert mich kaum. Schon 1975 durfte der Film nur zensiert aufgeführt werden und verschwand so unbemerkt aus den Kinos wie er gekommen war.
Johan ist ein Hauptcharakter, den man den ganzen Film über nicht zu Gesicht bekommt und von dem man nur das hört und weiß, was andere über ihn sagen oder zu wissen meinen. Johan verbringt die Laufzeit des Films im Gefängnis, verurteilt wegen Diebstahl. Sein Geliebter, Phillipe Vallois, der Regisseur des Films, hatte vor, gemeinsam mit Johan einen Film zu drehen, einen Film im Film, in dem er ihre Liebesbeziehung thematisiert (Zitat: ich werde unser erstes Treffen genau rekonstruieren, um es nie zu verlieren), und sucht nun jemanden, der Johan in seinem Film verkörpern soll, da Johan durch seinen Gefängnisaufenthalt dies nicht mehr selbst übernehmen kann. Dieser Suche widmen sich die folgenden eineinhalb Stunden. Der Film ist großartig. Er hätte auch revolutionär sein können, hätten ihn damals mehr als zehn Menschen gesehen. Er verscherzt sich die Breitenwirkung damit, dass er im Schwulenmilieu angesiedelt ist und das gleich zu Beginn und auch später noch mit ziemlich expliziten homoerotischen Sexszenen unterstreicht. Vallois war sicherlich kein Regisseur, der sich irgendeinem Publikumsanspruch beugte. Ansonsten ist er so postmodern wie man 1975 nur sein konnte (und noch mehr als das). Wie eine Collage setzt er sich aus den verschiedensten Bausteinen zusammen: aus Interviewszenen, in denen sich der Regisseur mit den Männern unterhält, die Johan spielen sollen, und nie den richtigen Ersatz findet, in Szenen aus dem Film selbst, dem Film im Film, die allesamt in Farbe sind, während die Szenen in der „Realität“, hinter der Kamera, schwarzweiß gedreht wurden (was zu Szenen führt, in denen ein Mann vor der laufenden Kamera agiert und jemanden hinter der Kamera etwas fragt, und beim Schnitt auf den Gefragten alle Farbe aus den Bildern weicht und wir wieder in der tristen Wirklichkeit sind). Überhaupt wird man fortwährend daran erinnert, dass da ein Film gedreht wird. Leute, die Mikrophone ins Bild halten, sind allgegenwärtig, und man weiß nie: was ist nun Film und was Realität. Selbst die Eltern des Regisseurs, der sich selbst spielt, und nur in dem Film, der im Film gedreht wird, von einem Schauspieler verkörpert wird, treten als das auf, was sie sind. Gewürzt ist das Ganze mit den schon erwähnen hocherotischen Schwulensexszenen, die die Grenzen des Hardcore nur beinahe überschreiten, und unglaublichen, ambivalenten Charakteren: einem irren Sadisten, der in Naziuniform in SM-Clubs mit Stacheldraht hantiert, um Kerle zum Orgasmus zu bringen, die sonst nicht zu ihrem Ziel kommen, eine ständig kichernde Frau, die permanent aus einem Fläschchen eine Droge namens Poppers schnieft, den Regisseur, dessen Stimme fortwährend aus dem OFF Briefe an Johan im Gefängnis rezitiert, poetische Worte der Verlassenheit, des Zweifels und der Hoffnung. Jeder spielt offenbar sich selbst und dadurch gewinnt man persönliche Einblicke in ihr Innerstes. Neben zwei schier unglaublichen Tanzszenen (eine davon zeigt einen nackten Mann, der seinen Athletenkörper im Rhythmus zu Bruckner bewegt) gibt es kurz vor Ende noch eine Szene, bei der ich vor Lachen fast auf dem Boden lag: ein Schwarzer namens Walter backt einen Schokoladenkuchen, tanzt dabei durch die Küche, grinst wie die gute Laune selbst und wirft wahllos Eier, Mehl und Schokolade in einen Topf, sodass eine klebrige Brühe entsteht. Am Ende kommt doch ein Kuchen dabei heraus. Eine Katze macht sich über ihn her und leckt die Sahne runter. Die Szene muss man wohl gesehen haben und lässt sich kaum adäquat wiedergeben. Ohne die Kuchenbackszene, die vielen Details und die unzähligen Charaktere wäre der Film interessant, aber flach. Gerade diese Kleinigkeiten, die die Handlung selbst nicht voranbringen, schaffen das große Kunstwerk, das Monument, zu dem JOHAN schlussendlich geworden ist. Nicht nur ein Emanzipationsfilm für Homosexuelle, sondern eine avantgardistische Selbstreflexikon über das Filmemachen, eine tragische Liebesgeschichte, eine überschäumende Ode an einen Sommer, der allen Beteiligten viel bedeutet zu haben scheint, was man in jeder Minute spürt.