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Francois Truffaut erzählt die wahre Geschichte des so genannten „Wolfsjungen": Ende des 18. Jahrhunderts wird in Frankreich ein verwilderter Junge entdeckt, der offensichtlich den Großteil seiner Kindheit unter Tieren im Wald gelebt hat. Bar jeder Möglichkeit von menschlicher Kommunikation und Handlungsweise, wird der Junge in ein Krankenhaus für geistig und körperlich Behinderte gebracht, bald aber unter die private Obhut eines Arztes (Truffaut selbst) gestellt. Mit viel Geduld und vorsichtigen Lehrmethoden gelingt es diesem, den Jungen zumindest in die Nähe menschlicher Entwicklung zu bringen.

In ruhigen, unaufgeregten Kameraeinstellungen, mit extrem zurückgefahrener Musik und ohne jede künstliche Tempoerhöhung erzählt Truffaut hier die außergewöhnliche Geschichte eines Kindes, das fernab der menschlichen Zivilisation aufwuchs und dadurch quasi zum Inbegriff des menschlichen Urzustands wurde. Dabei legt er - ein wenig erstaunlich - den Fokus nicht so sehr auf das Leiden des Protagonisten (wie es etwa David Lynch in seiner Außenseitergeschichte „Der Elefantenmensch" tut), sondern auf den Wert rücksichtsvoller und am Wohl des Kindes orientierter Pädagogikmaßnahmen. Die Geduld und Einfühlsamkeit, mit der der Arzt und seine Hausangestellte sich dem Kind nähern, seinen wilden Charakter nicht etwa als „unmenschlich" verdammen, sondern als dessen gegebene Eigenschaften akzeptieren und nur Schritt für Schritt ihn mit den Gepflogenheiten zivilisierter Menschen vertraut zu machen versuchen, zeugt von einem tief humanistischen Pädagogikkonzept, das insbesondere zu einer Zeit erstaunlich ist, zu der der Einsatz von Prügel und Einschüchterung noch an der Tagesordnung war (und ich rede nicht von der Handlungszeit des Films, sondern von seiner Entstehungszeit: Ende der 60er).

Getragen wird dieses einfühlsame und trotz seiner unspektakulären Inszenierung durchgehend fesselnde Psychogramm von den starken Darstellern - allen voran Jean-Pierre Cargol als verwilderter Junge gibt eine phänomenale Glanzleistung und überzeugt in jeder Sekunde als dieses den Menschen eher wie ein zutrauliches Tier verbundene Geschöpf. Aber auch die weiteren Darsteller geben ihre Figuren authentisch und mit der nötigen Zurückhaltung, mitunter Kühle. Das alles spielt sich vor ebenso überzeugenden Kulissen ab, sodass man sich als Zuschauer zu jedem Zeitpunkt voll und ganz ins ländliche Frankreich des ausgehenden 18. Jahrhunderts zurückversetzt fühlt.

Mit „Der Wolfsjunge" hat Truffaut nach seinem berühmten Erstlingswerk „Sie küssten und sie schlugen ihn" ein weiteres Traktat gegen die spießbürgerlich-engstirnigen Erziehungsansichten seiner Generation entworfen, hier nur aufgrund der fremden Settings auf eher metaphorischer Ebene. Zu Herzen geht diese Geschichte dennoch, was sich neben den tollen Darstellern auch der empathischen und bildstarken Kameraarbeit von Nestor Almendros verdankt, die immer wieder einfache, aber ebenso schöne Bilder erzeugt. „Der Wolfsjunge" ist ein schöner, gefühlvoller und sensibler Film über die Frage, was der Mensch in seinem Innersten eigentlich ist und wie man auch „schwierige" Kinder zu selbstständigen, um ihren Eigenwert wissenden Menschen erziehen kann. Im Grunde ein Pflichtfilm für jeden angehenden Pädagogen.

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