Eins vorweg: Wer einen logischen, durchschaubaren Plot oder leichte Unterhaltung erwartet, sollte um dieses Roadmovie einen großen Bogen machen. Dennoch braucht man auch kein trockenes Kunstepos zu fürchten, denn Regisseur "Pino" Solanas hat mit diesem Film ein Farbenspektakel geschaffen, das seinesgleichen sucht und zudem vor bitterbösem satirischem Humor nur so strotzt. Wer sich etwas mit der Situation Argentiniens Anfang der 90er auseinandergesetzt hat, wird schon erahnen, dass der notorische Politkritiker Solanas es vor allem auf den damaligen Präsidenten Carlos Menem und seine neoliberale Politik abgesehen hatte...
Zunächst zur Handlung: Martín (Walter Quiroz), ein 17-jähriger, musikbegeisterter Jugendlicher aus dem "Ende der Welt" Argentiniens, der Kleinstadt Ushuaia in Feuerland, steht mit seinem Leben auf Kriegsfuß. In der Schule wird stramm autoritär unterrichtet (Paralellen zu "The Wall" sind unübersehbar) und weil der Teenager das einfach nicht akzeptieren will, soll er sitzen bleiben. Seinen streitsüchtigen Stiefvater und seine schleimerische Mutter kann er sowieso nicht leiden, und auch sein bester Kumpel aus der Schülerband ist keine Hilfe, denn er zieht auf der Suche nach Ruhm und Glamour in die Hauptstadt Buenos Aires um. Zu guter Letzt wird seine Freundin schwanger und treibt zu Martíns Enttäuschung das Kind auch noch ab. Also schnappt er kurzerhand sein Fahrrad und bricht nach Norden auf, um seinen echten Vater zu finden, der als Comiczeichner arbeitet.
Das die Reise nicht so ohne Überraschungen ablaufen würde denkt sich der erfahrene Roadmovie-Fan sicher schon. Schon auf den ersten paar hundert Kilometern (Argentinien ist von Nord nach Süd über 3000 km lang) trifft Martín auf englischsprechende Bauern ("Euer Präsident hat alles an uns verkauft") und verrückte Lastwagenfahrer. Sein erstes Ziel Buenos Aires ist derweilen von einer Jahrhundertüberschwemmung heimgesucht worden (was mit grandioser Tricktechnik dargestellt wird), und der Präsident "Rana" (spanisch: Frosch) tritt deshalb in der Öffentlichkeit in Schwimmflossen auf. Aber Martins Vater weilt nicht mehr hier, sondern angeblich im tiefsten Dschungel im Westen Brasiliens. Dorthin führt ihn seine Reise auch nach einer kunterbunten Fahrt durch Bolivien und Peru. Schon verraten sei hier, dass sie auch hier noch lange nicht zu Ende ist...
Gleich am Anfang wird eigentlich klar, das der Plot nur die Rahmenhandlung für ein zutiefst gesellschaftskritisches Werk ist. Das fängt mit der Beschreibung der Schule von Martín an, die eher an die 30er als an die 90er Jahre erinnert und in der der Direktor für seine ultrakonservative, rigide Führungsweise auch noch einen Preis vom Präsidenten höchstpersönlich überreicht bekommt. Dann die vielgestaltigen satirischen Darstellungen der Globalisierung: Ein Präsident, der sein Land Provinz für Provinz ans Ausland verkauft, ein Lastwagen, der die Auslandsschulden bei der Landbevölkerung eintreibt, und ein Bauernmarkt, auf dem man für 20 Dollar gerade mal eine Prise Salz und zwei Streichhölzer erhält. Was es mit dem "Kongress der knienenden Länder" und dem "Diätgürtel zum Engerschnallen" auf sich hat, will ich erstmal nicht verraten... All das ist extrem übertrieben dargestellt und regt vielleicht gerade deshalb zum Nachdenken an. Nicht nur eine Anekdote ist auch, dass auf den Regisseur während der Dreharbeiten ein Attentat verübt wurde.
Als zweites bedeutendes Element sind die Farben- und Effektspielereien zu nennen, die nicht umsonst mit Preisen wie z.B. beim Filmfestival in Cannes überhäuft wurden. Sie machen ihn zu einem bunten, fast surrealistischen Spektakel, das selbst den meisten Hollywoodproduktionen mit ähnlichen Ambitionen problemlos das Wasser reichen kann. Am Anfang fängt das alles noch ganz harmlos an, die entlegene Stadt Ushuaia und insbesondere die Schule wird in dunklen Grau- und Brauntönen treffend dargestellt. Einmal in Buenos Aires angekommen beginnt die Farbenorgie zuerst mit den Hochglanzaufnahmen der Überschwemmung, die immer wieder neblig-grauen Szenen weichen. Aber richtig bunt wird es erst in Bolivien und Peru. Immer wieder gibt es clipartige Zwischensequenzen, die wie ein Fernsehprogramm daherkommen und über die "allgemeine Lage" informieren, etwa ein etwas "anderer" Wetterbericht oder eine Werbesendung. Auch Musik ist hin und wieder als Stilmittel anzutreffen, etwa wenn Martín und sein Bandkumpel selbstkomponierte Songs am Klavier oder alternativ auch auf einem Boot vortragen. Die schauspielerischen Leistungen sind übrigens auch herausragend: Alle Szenen wirken wie direkt aus dem Leben geschnitten, ohne künstliches Gestikgehabe. Das kann man zwar auch für trocken halten, wird aber vor allem durch die sexy Unbekannte, die immer wieder auf Martín stößt, aufgelockert.
Nun zur Kritik: Teilweise wirken die Effektspielereien etwas überladen, was zwar sicher Absicht war, aber auf Dauer etwas nerven kann. Doch glücklicherweise beschränken sich diese Exzesse auf den Anfang, ab der Szene im überschwemmten Buenos Aires wird etwas mehr die Handlung betont, die aber angesichts des satirischen Hintergrunds sowieso eher nebensächlich ist. Einen minimalen Minuspunkt gibt es auch für das Ende, das meiner Meinung zu viel Gute-Laune-Faktor hat. Nach den satirischen Bosheiten, die man sonst im Film vorgeworfen bekommt, wirkt es allerdings zugegebenermaßen erlösend und versprüht Optimismus.
Fazit: Wer einmal einen richtig ungewöhnlichen Film sehen will und zudem etwas Faible für Lateinamerika hat, der kann mit diesem Roadmovie nur richtig liegen. Man erhält eine spektakuläre Farben- und Effektorgie mit vielen bitterbösen Szenen, in denen man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Vielleicht erschliesst sich der Sinn des Films erst wirklich nach der argentinischen Wirtschaftskrise 2001/02: Hatte Solanas am Ende mit seiner Kritik etwa Recht?
9,5/10