Review

Gesucht wird Jesus Christus... Angeklagt wegen Verführung, anarchistischer Tendenzen, Widerstands gegen die Staatsmacht.".
Man wird noch weitere Sätze wieder und wieder zu hören bekommen. 

Es ist der 20. November 1971 in der Deutschlandhalle zu Berlin, als Klaus Kinski im Scheinwerferlicht der Bühne, ohne Kulissen oder Effekte seinen Text „Jesus Christus Erlöser" vorträgt. Tausende Menschen sind gekommen, viele von ihnen politische Aktivisten und zwei Welten prallen aufeinander: Hier der diskussionswütige, kritische Pöbel, dort der penibel arbeitende Künstler Kinski, der ohne Unterbrechungen nur seinen auswendig gelernten Text rezitieren will. Es kommt mehrere Male zum Eklat, Kinski verlässt zweimal ausgepfiffen die Bühne, Beleidigungen erfolgen auf beiden Seiten. Später, als sich die Reihen gelichtet haben und nur noch eine Hundertschaft von Interessierten geblieben ist, bringt er seinen Vortrag im Kreis des Publikums zu ende.

Das Material von Jesus Christus Erlöser fand sich in den Archiven Klaus Kinskis, Regisseur Peter Geyer als dessen Verwalter rekonstruierte aus dem ihm vorliegenden Material ein beeindruckendes Zeitdokument um zwei aufeinander prallende Verständnisse von Kunst, politischen Auffassungen und - vor allem - Temperamenten in einer Zeit, in der besonders die Autoritäten kritisch beäugt worden, welche strikte normative Maßregeln befahlen. Kinskis Interpretation der Evangelien ist genau eine solche: Radikal, kritisch, aber auch politisch auf linker Seite stehend, zeichnet er „seinen" Jesus als Anwalt der kleinen Leute, der (sündigen) Randgruppen, predigt seine Regeln. Vom Publikum wird ihm aufgrund seiner eigenen Person, des erfolgreichen Filmstars, der dieser Einstellung enthoben scheint, Verlogenheit vorgeworfen und seine gegen Establishment gerichtete Ideologie, die er predigte, nicht abgenommen.

Die Stärke des Films ist es, Kinskis Persönlichkeit einzufangen, die neben der Seite des schauspielerischen Genies auch von legendärer Cholerik geprägt war. Regisseur Werner Herzog, ein langer Wegbegleiter Kinskis, konnte ein Lied davon singen. Selbige Erfahrungen mit dem wütenden, egomanischen Genie verarbeitete er in dem Film Mein liebster Feind - wobei der Titel das ambivalente Verhältnis der beiden Größen des deutschen Kinos auf den Punkt bringt. 

Jesus Christus Erlöser
wird mit Zwischentiteln, die bisweilen aufgrund ihres Zynismus komisch anmuten, aus Kinskis Autobiografie Ich brauche Liebe in mehrere Teile getrennt. Daraus ergibt sich die Crux des Films: Nicht Kinski steht im Vordergrund, sondern sein rezitierter Text, den er wieder und wieder beginnt und der zuweilen leider allzu unverstellt offenbart, dass es sich hierbei nur ums „Abfilmen" eines Bühnenauftritts handelt, der aus Archivaufnahmen rekonstruiert wurde. Dies war zwar zugleich Peter Geyers Absicht, einige Zuschauer werden sich aber trotz Kinskis nahezu dämonischer, geradezu physisch erfahrbarer Präsenz fragen, warum sie dafür ins Kino gehen.

Von der Theatralik, des Pathos, Charisma und der Inbrunst von Kinskis Vortrag geht gerade durch den Transport ins Medium Film Einiges verloren, auch wenn Jesus Christus Erlöser als Zeitdokument einer Gesellschaft in Aufruhr durchaus lohnend ist. Nur sollte man wissen, dass man sich auch irgendwo auf ein filmisches Experiment einlässt, das Konzentration verlangt und auch abseits derartiger verbaler, diffamierender Highlights, die schon in den Trailern angesehen werden konnten, längere unspektakuläre Monologe aufweist, die zuweilen anstrengen.

In den Fällen der Bibel, Kinskis Rezitation oder des Films gilt: Man sollte sich sein eigenes Bild machen. Jesus Christus Erlöser ist vielleicht nicht eine der prägnantesten, wohl aber interessantesten deutschen Dokumentarfilme der letzten Jahre. Anschauen! (knappe 8/10)  

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