Die Geschichte von Juraj Herzs MORGIANA ist denkbar simpel: Im Mittelpunkt der Handlung stehen die beiden ungleichen Schwestern Klára und Viktorie. Während Klára den Liebreiz in Person darstellt, sich heiter und kindlich benimmt, allen Männer, die ihr begegnen, mit ihrer Anmut den Kopf verdreht, grenzt sich Viktorie schon rein äußerlich von ihr ab, verkörpert das Dunkle und Verbrecherische, wird bestimmt von Missgunst und Neid gegenüber ihrer Schwester. Als diese nach dem Tod des gemeinsamen Vaters auch noch diejenige Erbin ist, der das Testament das Stammschloss der Familie zuspricht, während Viktorie sich mit einem etwas entlegeneren Zweitanwesen zufrieden geben muss, ist das für sie der Tropfen, der noch fehlte, um ihre schwarzen Gedanken in einem finsteren Plan explodieren zu lassen. Von einer Bekannten besorgt sie sich ein farbloses, geruchloses, seltenes Gift. Ein langes Siechtum soll Klára bevorstehen, nachdem Viktorie ihr einige Tröpfchen davon in ein Wasserglas mischte. Allerdings hat Viktorie nicht damit gerechnet, dass die Giftmischerin, von der sie das Mittelchen bezogen hat, sie schon bald zu erpressen beginnt und sie somit immer tiefer in eine Spirale aus Lügen und Mord verstrickt…
Schon öfter habe ich gelesen, dass MORGIANA so etwas wie der Schlussakkord der Tschechischen Neuen Welle sein soll, und ganz ist die These nicht von der Hand zu weisen, ist MORGIANA doch gleichermaßen ein eskapistischer Rückzug in Traumwelten, die nicht mehr viel mit der tschechischen Gegenwart zu tun haben, sowie ein letztes Aufflackern von unbändiger Kreativität, die sich die Filmschaffenden noch nicht hatten austreiben lassen, wenn sie sie inzwischen auch in andere Kontexte verlagern mussten, wenn sie überhaupt noch Filme drehen wollten. Am ehesten hat mich MORGIANA dabei an Jaromil Jires VALERIE A TÝDEN DIVU erinnert, dem eine ähnliche Grundtendenz eigen ist. Hier wie dort ist die Geschichte an einem unbestimmten Ort, zu einer unbestimmten Zeit angesiedelt (in MORGIANA werden zwar mehrmals technische Errungenschaften wie Telefone oder Flugzeuge erwähnt, allerdings erschienen die mir als völlig deplatzierte Anachronismen, während Kostüme und Dekors eher darauf schließen lassen, dass der Film in irgendeinem früheren Jahrhundert spielen muss), hier wie dort werden Bezüge zu aktuellen politischen oder gesellschaftlichen Ereignissen aus verständlichen Gründen vermieden (wenn auch vor allem VALERIE A TÝDEN DIVU derart offen und uneindeutig ist, dass man mehr als genug in ihn hineininterpretieren kann), hier wie dort hat man einen freien Film vor sich, der sich nicht um gängige Erzählmuster schert und seine ganz eigene Bildsprache entwickelt.
MORGIANA erzählt eine konventionelle Geschichte mit unkonventionellen Mitteln. Ganz offensichtlich ist das Drehbuch eine reine Aneinanderreihung von Versatzstücken aus trivialen Gothic Novels des 18. oder 19. Jahrhunderts. Juraj Herz hat hier einen filmischen Groschenroman geschaffen, voller überzeichneter Charakter, mit abgeschmackten Szenen, trivialen Vereinfachungen und Standardsituationen, die ohne Überraschungen abgespult werden. Das Bemerkenswerte ist jedoch, dass der Film daraus nie einen Hehl macht. Schon von der ersten Minute an ist sich MORGIANA vollkommen bewusst, dass er nichts weiter darstellt als einen Flickenteppich aus altbekannten Genremotiven. Dass alle seine auftretenden Figuren entweder gut oder böse sind, lässt er schon daran erkennen, dass er seine Schwarzweißmalerei gleich überdeutlich auf die beiden Hautpersonen überträgt. Klára und Viktorie werden von der gleichen Schauspielerin, Iva Janzurová, verkörpert, wobei die Maskenbilder ganze Arbeit leisteten, und die beiden Protagonisten derart unterschiedlich schminkten, dass die Illusion perfekt ist und man tatsächlich zwei verschiedene Darstellerinnen in den Rollen vermuten könnte, wenn man es nicht besser wüsste. Wie die Story es vorgibt, ist Klára rein, ausgestattet mit hellen Farben, zart und liebreizend, während Viktorie mehr einem Stummfilm-Vamp gleicht, stets in tiefstem Schwarz auftritt, wie eine Gestalt aus einem Alptraum. Im Folgenden entwickelt sich die Geschichte exakt so wie der Zuschauer vermutet. Viktorie, die neidische Schwester, möchte Klára aus dem Weg räumen, um Rache an ihr dafür zu nehmen, dass sie, im Gegensatz zu ihr, so rein, schön und begehrt ist, und sich andererseits auch ihren Teil des väterlichen Erbes sichern, und wird dabei nicht nur zum Opfer ihrer eigenen Schändlichkeit, sondern auch zur eigentlichen Hauptperson des Films, da Klára die meiste Zeit nicht mehr zu tun hat als krank in ihrem Bett liegen, und trotzdem oder gerade deswegen mehr als einen Mann zu verzaubern. Gefallen hat mir, dass die Schwestern über einen längeren Zeitraum nicht nur bezüglich ihrer Charaktereigenschaften, sondern auch räumlich voneinander getrennt sind. Klára siecht im Familienschloss dahin, bewacht von einer Krankenschwesternonne, erhält regelmäßige Besuche von einem ratlosen Arzt, der sich keinen Reim auf ihre Krankheit zu machen weiß, und verliebt sich in einen jungen Leutnant, der seinerseits sein Herz an sie verliert. Viktorie indes residiert auf ihrem eigenen Anwesen, erhält nur von Bediensteten Nachricht vom Zustand ihrer Schwester, verabreicht einem Hund das gleiche Gift, das sie Klára gab, um zu schauen, wie lange es dauern wird bis das Tier verendet ist, und kümmert sich darum, sämtliche Mitwisser aus dem Weg zu räumen.
Es ist schon bewundernswert wie MORGIANA es schafft, rein auf seiner erzählerischen Ebene nicht die kleinste Innovation aufblitzen zu lassen. Wäre der Film verhältnismäßig normal in Szene gesetzt worden, hätte er wohl ein Lehrstück in gähnender Langeweile abgegeben. Die Innovation besteht jedoch in der völlig überdramatischen Over-the-top-Inszenierung, die Herz dem Drehbuch hat angedeihen lassen, sodass sich MORGIANA, obwohl die Stimmung stets todernst bleibt, der Film immer vorgibt, sich selbst viel zu wichtig zu nehmen, schlussendlich eher zu einer Art Genreparodie entwickelt, einer Ohrfeige für die, die tatsächlich erwarteten, hier kitschige Liebesszenen, bitterböse Rachepläne und muntere Helden ohne alle Selbstironie präsentiert zu bekommen. Um es auf den Punkt zu bringen, wirkt MORGIANA für mich wie der Film eines überambitionierten Regisseurs, der einen Klischeestoff so effektvoll wie möglich in Szene setzen wollte, und damit in die Bereiche der unfreiwilligen Komik und der lächerlichen Melodramatik vorstößt. Es spricht nur für Herzs Talent, dass MORGIANA dabei nie wirklich unfreiwillig komisch wird, sondern immer nur so tut, als sei er es. Ausschlaggebend ist vor allem die Musik von Luboš Fišer, die mit zum Effekthascherischsten und Überzogensten gehört, das ich jemals hörte. Jede Geste der Figuren wird vom Soundtrack kommentiert. Es scheint, als mache sich der Orchesterscore ständig über die triviale Geschichte lustig, wenn er beispielsweise bei jeder Missetat der bösen Schwester eine Tonkulisse anstimmt, die die Bilder mit ihrer übertriebenen Wucht nahezu erschlägt. Hinzukommen ungewöhnliche Kamerawinkel, die permanent wichtige Details in den Fokus nehmen, als sei der Zuschauer ein unmündiges Kind, das man bei der Hand packen und dem man zeigen müsse, was nun für die Story wichtig ist. Nachdem Viktorie Kláras Trunk vergiftet, muss das Glas natürlich in Großaufnahme erscheinen, und sei das noch nicht genug, unterstreicht das Orchester nochmals mit einem Rotstift, wie dramatisch und bewegend die Szene doch ist, was fast schon etwas Comichaftes hat.
Eingepackt hat Juraj Herz die Geschichte in Bilder, die, wie man es von ihm gewohnt ist, auf eine stille, zurückhaltende Weise, die dem restlichen Inszenierungsstil komplett zuwiderläuft, schlicht atemberaubend sind, und schon auf die märchenhafte Welt hindeuten, die er in seinem späteren Märchenfilm PANNA A NETVOR schaffen sollte. Da ziehen Schwäne in künstlichen Seen ihre Bahnen, da reihen sich in prachtvollen Schlössern finstere und nichtsdestotrotz opulente Räume aneinander, da bewegen sich die schablonenhaften Figuren durch berauschende Parks und Wälder, die wesentlich authentischer zu sein scheinen als sie selbst, da sie nicht am Reißbrett entworfen wurden. Subtil und recht amüsant empfand ich auch einige wenige kleine Spielereien, die den Film durchziehen, wie beispielsweise der running gang, dass die Kamera immer mal wieder die Perspektive von Viktories Katze Morgiana einnimmt, und wir die Welt aus deren Sichtweise präsentiert bekommen.
Unterm Strich ist MORGIANA nun sicherlich kein Meisterwerk wie VALERIE A TÝDEN DIVU oder Herzs eigener SPALOVAC MRTVOL, dennoch hat mich der Film, ob man ihn nun als letzten Ausläufer der Tschechischen Neuen Welle betrachten möchte oder nicht, alles andere als enttäuscht.