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Blindheit nimmt in unserer Gesellschaft durchaus einen gewissen Raum ein. Beispielsweise gibt es einige Sprichworte und Redewendungen, die mit dem Blindsein oft menschliche Fehler und Fehlentscheidungen beschreiben. Wenn zu Beginn Ampellichter in Nahaufnahme zu sehen sind, mal grün, mal rot, denken wir unweigerlich an Farbenblindheit, an Rot-Grün-Schwäche. Wenn wir visuell das Verbot nicht mehr von der Erlaubnis unterscheiden können, heißt das abstrahiert, dass wir das Verbrechen nicht mehr vom Recht unterscheiden können. Und zu einem Großteil geht es darum nun in diesem Film.

„Blindness" folgt zunächst klassischen Viren- und Seuchenfilmen wie „Outbreak" oder auch „28 Days later". Der erste Ausbruch, Ausbreitung, Eindämmung, Kontamination. Das sind die Stadien, die uns Fernando Meirelles erleben lässt. Der Großteil der Handlung findet in einem weitläufigen Gebäudekomplex statt, wo die Blinden zusammenpfercht sich selbst überlassen sind. Es erscheint etwas unlogisch und erzwungen, dass die Regierung keine Anstalten macht, sich um die Blinden zu kümmern, außer Wachen den Schießbefehl zu erteilen, sollte ein Infizierter fliehen wollen. Selbst als es Verletzte und Tote gibt, scheint es der Außenwelt egal zu sein. Diesen Logikkloß muss man schlucken, dient es wohl dazu, die Eskalation innen voranzutreiben. Auch verwirrt die Zeitabfolge. Tageszeiten und vergangene Tage sind nur zu erahnen und wenn man die angeblich täglich stattfindende Essensverteilung als Maßstab nimmt, klaffen ein paar Logiklöcher auf. Zumindest aber verwirrt die fehlende Zeitorientierung mehr, als es dazu dient, den ebenfalls ohne Zeitgefühl vegetierenden Blinden näher zu kommen.

Das Lager wird zu einer Art menschlichem Mikrokosmos, einer neuen Gesellschaft aus Blinden, die sich zunächst friedlich und zumeist aus Angst und Ungewissheit, organisieren, ehe eine Partei die Macht ergreift und die Nahrungsmittel einbehält. Die konsequente Tierwerdung des Menschen wird psychologisch durchaus nachvollziehbar und sehr roh dargestellt. Grausame, menschliche Instinkte schlagen durch, die Räume sind über und über voll von Dreck, Müll und Fäkalien, Gewalt greift um sich und Machtkämpfe eskalieren, während die Schwächsten sich ohnmächtig zurückziehen. All dies im Kontext der Unfähigkeit zu sehen, der Unfähigkeit Schwäche zu erkennen und seine eigene einzugestehen. „Blindness" ist auch ein Film, über die Unfähigkeit des Menschen zu kommunizieren, sich in einer Gruppe zu arrangieren. Es ist ein Film, der sich traut hässlich, dreckig und ungemütlich zu sein und der am Ende des zweiten Drittels einige der beklemmendsten und schockierendsten Momente des Jahres bereitstellt. Ausstattung, Kamera und Sounddesign machen diese Momente im Lager äußerst ungemütlich.

Dass die symbolhafte Blindheitsepidemie wie aus dem Nichts kommt und unbegründet bleibt, kann man akzeptieren. Es ist der parabelartige Auslöser, um das Wesen Mensch zu sezieren und auszuloten. Das klappt auch ganz gut, nur merkt man dem Film hier und da an, dass er sich eben von Natur aus nicht die Zeit nehmen kann, die ein Roman für sich beansprucht. Immerhin haben wir es hier mit einer Literaturverfilmung zu tun, was bedeutet, dass die meisten der klugen Ideen von einer anderen Person stammen, die diese nicht primär für einen Film erdachte. Meirelles Inszenierung sorgt zwar nicht immer dafür, dass die Szenen im logischen Kontext funktionieren, aber in den meisten Fällen wirken sie zumindest auf emotionaler Ebene.

Leicht problematisch auch die Hauptprämisse der Blindheit; eine Krankheit, die nicht unbedingt perfekt dazu geeignet ist, über einen Film, bekanntermaßen ein primär visuelles Medium, dargestellt zu werden. Meirelles arbeitet viel mit weißen Rauschabblendungen, mit hoher Weißsättigung, mit Unschärfe, einem ständig wechselnden Fokus und zeitüberbrückenden Überblendungen. Das wirkt ganz gut, aber wirklich fühlbar wird die Blindheit dadurch nicht. Umso deutlicher klammern wir uns an Julianne Moore, die toll spielt und als einzige Sehende - auch dies wird nie erklärt - unter den blinden Wölfen lebt. Wie sie, kann auch der Zuschauer die Ausmaße der Eskalation visuell wahrnehmen und menschliche Körpersprache deuten. Leider nimmt uns Moores Figur nicht immer konsequent an die Hand. Oftmals folgen wir dem ebenfalls gut spielenden Mark Ruffalo, der aber schnell distanziert wirkt, weil der Zuschauer einen anderen Zugang zur Situation hat. Es fehlt auch an weiter ausgebauten Nebenfiguren. Der japanische Mann, scheinbar der Auslöser der Epidemie, und seine Frau wirken trotz einiger „Weißt du noch damals"-Gespräche kaum wirklich greifbar, kommen jedoch noch am besten weg. Auch die restlichen Nebenfiguren, wie eine Prostituierte, ein echter Blinder oder die Gaststars Gael García Bernal und Danny Glover, sind etwas knapp und fungieren mehr symbolisch im Menschenkonstrukt im Lager. Dies ist auch daran zu erkennen, dass keine Person einen Namen hat, sondern nach ihrem Beruf oder einem speziellen Merkmal benannt sind.

Dass der Film nicht am absoluten menschlichen Tiefpunkt endet, sondern weiter abstrahiert, ist eine gute Entscheidung. „Blindness" ruft zur Beobachtung und Selbstanalyse auf, hinterfragt sehr direkt und durchaus unbequem Moral und Rechtsempfinden. Das ist schon eine große Leistung, auch wenn die meisten Ideen, wie gesagt, schon in José Saramagos Roman stecken werden. Dennoch wandelt das Drehbuch die Geschichte gut um und schafft es, die Ideen zu integrieren. Das ist eine Leistung, die man nicht ignorieren sollte, obwohl der Hauptaspekt, das Symbol der Blindheit, für einen Film nicht ideal ist. Grandios sind aber Stimmung und Worte der letzten Sekunden. Sehr stark.

Fazit: „Blindness" ist ein außergewöhnliches, symbolhaftes Experiment einer Menschheitsstudie. Unbequem, roh, leicht artifiziell und doch emotional involvierend. Die Darsteller sind klasse und die Regie bemüht, doch ein wenig krankt der Film an seiner inneren Logik, an einem gewissen Distanzgefühl und dem Umgang mit Blindheit, die sich in dieser Größenordnung einfach nicht für eine filmisches Umsetzung eignet.
7,5/10

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