Unter den Erblindeten ist der Blinde König
Stadt der Blinden (2008): Es beginnt mitten im Berufsverkehr, auf einer vollkommen überfüllten Straße, in einer namenlosen Großstadt. Weiß! Alles ist weiß. Der Fahrer eines Wagens ist blind geworden. Und es dauert nur wenige Tage und die ganze Stadt ist weiß ... weißblind.
Inhalt: Es verbreitet sich wie ein Lauffeuer. Es, was immer Es ist. Es lässt einen erblinden. Begonnen hat es mit einem Autofahrer (Yusuke Iseya). Als er verloren an der Ampel steht, nichts sehend außer der Farbe Weiß, hilft ihm ein Dieb (Don McKeller) den Weg nach Hause zu finden. Dort angekommen bringt ihn seine Frau zu einem Augenarzt (Mark Ruffalo). Dieser ist vollkommen ratlos, er kann keine Veränderungen an den Augen feststellen, allerdings scheint sein Patient dennoch nichts sehen zu können. Genauso wie er selbst, als er am nächsten Morgen erwacht – und wie alle, die den Weg des Autofahrers gekreuzt hatten: der Dieb, die Sprechstundehilfe, seine Frau und jeden der diese Personen getroffen hat. Der Ausnahmezustand beginnt schon in den Morgenstunden. Die Frau des Arztes (Julianne Moore) begleitet ihren Mann in die Quarantänestation, eine alte Psychiatrie. Die Frau gibt sich als blind aus, um bei ihm zu sein und sie bleibt auch die Einzige, die in diesen Räumen noch etwas sehen kann. Die Beiden sind vorerst allein, sie richten sich ein – doch schon bald läuft die Maschinerie irgendwo da draußen, außerhalb der Mauern der Psychiatrie an, und es kommen hunderte, vielleicht sogar tausende. Sie alle bleiben sich in den Räumlichkeiten selbst überlassen. Die Frau des Arztes ist allein unter Erblindeten. Sie sieht das Elend, die Verrohung und die Abschottung von der Außenwelt. Sie hilft, wo sie kann – immer in der Sorge ohne Augenlicht aufzuwachen. Die Lage verändert sich, als eine Abteilung der Erblindeten sich entscheidet eine Vorherrscherrolle in dem Machtvakuum einzunehmen. Sie beschlagnahmen das gelieferte Essen und geben es nur gegen Wertgegenstände oder sexuellen Handlungen heraus. Die Situation eskaliert, erst im Inneren und dann außerhalb der Mauern ...
Review: Einen Film über Blindheit zu machen, scheint sich selbst zu widersprechen. Ein visuelles Medium spricht über das Unsichtbare – das Unsehbare. Eine ganze Stadt erblindet, das ist nur der äußere Prozess, den Mereilles darstellt, der Innere spielt um Kommunikation, um den Mirkokosmos der Gesellschaft, über das Tier im Menschen, sein Gruppenverhalten usw. Der Ausgangspunkt der Geschichte ist, wie in vielen Filmen dieser Art, eine Epidemie und man verfolgt schon Gesehenes, bis hin zur Quarantäne. Hier beginnt die eigentliche Geschichte, eine „was-wäre-wenn“ Geschichte. Was wäre, wenn Menschen in eine solche Situation geraten, unfähig sich gegenseitig zu sehen, ja vielleicht sogar so wahrzunehmen, wie sie es gewohnt sind. Was entsteht, ist ein erstes Zusammenfinden, sowie der darauf folgende Kollaps. Mereilles gelingt es, das Entstehen einer Gemeinschaft innerhalb der Mauern der Quarantänezone herauszuarbeiten. Alle sind orientierungslos, ängstlich, unbeholfen – es entsteht ein Wir-Gefühl: „Wir Blinden“ finden einander in der Not und es gibt die da draußen, mit ihren Gewehren und Wachtürmen, die einen gefangen halten. Sie organisieren sich, helfen einander – doch dann zeichnet Mereilles die andere Seite der menschlichen Seele, das Zerstörerische. Diese Zerrissenheit zwischen dem Menschlichen und Unmenschlichen zieht sich durch den ganzen Film und stellt auch gleichzeitig immer wieder in Frage, was denn dieses Menschliche/ Unmenschliche eigentlich ist. Der „Königsmord“ erscheint gerecht und logisch, eine Befreiung - aber mit welchen Mitteln? Am Ende rettet sich eine kleine Gruppe, die sich abgrenzt, auch den Verlust von Mitgliedern in Kauf nimmt, in ein Haus, eine Insel außerhalb und doch mitten in der Gesellschaft. Der Mensch als a?-soziales Wesen? Über allem schwebt diese Frage. So auch über dem Verhältnis zwischen der sehenden Frau und ihrem Mann – leider bleiben außer diesen Beiden, die meisten Charaktere etwas auf der Strecke. Aber in der apokalyptischen Darstellung kristallisiert Merseilles neben den zerstörerischen Kräften, die alle zivilisatorischen Errungenschaften der letzten 500 Jahre zerreißen, auch positive Aspekte heraus. Das „blinde“ Erkennen des wahren Kerns des Gegenübers oder die blinde Liebe werden zentrales Bestandteil der sozialen Interaktion.
Mereilles behält die große Geschichte im Auge, die Geschichte rund um die Gesellschaft der sehenden Frau, dafür opfert er einige Sidestorys. Dadurch hält er spätestens ab der zweiten Hälfte auch das Tempo der Geschichte straff in seinen Händen.
Besonders hervorzuheben sind in diesem Film die filmischen Mittel. Mit einer virtuosen Kameraarbeit überzeugt César Charlone, der schon bei „Der ewige Gärtner“ und „City of God“ mit Mereilles gearbeitet hat. Das ständige Über – und Unterbelichten, aber auch die Kameraführung ermöglichen ein tieferes Eindringen in die Geschichte und werden eins mit der Dramaturgie: die Welt verschwimmt und die Konzentration verlagert sich auf Stimmen und ein gelungenes Sound-Design. Ohne es an dieser Stelle verraten zu wollen, gelingt auch das Ende der Geschichte – das stimmig den Zuschauer mit einem nachdenklichen Kopf und etwas beklemmendes Bauchgefühl entlässt.
Mereilles schafft ein packendes Sozialdrama, das durch virtuose Bilder gestärkt, mal sanft – mal brutal überzeugt.
8 von 10 Punkten