Ein Mann steht an der Ampel und fährt einfach nicht weiter. Ärgerlich. Die anderen Autofahrer hupen, meckern, drängeln. Passanten bleiben verwundert stehen und gaffen, versuchen herauszufinden, was da los ist, warum der gute Mann nicht weiterfährt. Aber er kann nicht weiterfahren - er ist blind...
Bereits die Anfangssequenz von Fernando Meirelles' Romanverfilmung Stadt der Blinden gibt das Thema eindringlich wieder - Was passiert, wenn die allgemeinen, alltäglichen Konventionen, Regeln und Abläufe gestört werden? Schon ein einziges Auto, dass bei Grün nicht zügig weiterfährt, führt zu Lärm, Unmut, Diskussionen und Agression. Dieses Thema treibt Meirelles nach und nach auf die Spitze, indem er Menschen plötzlich und grundlos erblinden lässt. Was macht man, wenn niemand helfen kann? Wenn der Augenarzt sagt, so etwas hätte er noch nie erlebt? Wenn eben dieser Augenarzt einen Tag später selbst blind wird?
Meirelles spielt mit den Ängsten der Hilflosigkeit, der Abhängigkeit und einer ungeschönten Hoffnungslosigkeit. Aus der Sicht der einzigen Immunen (Julianne Moore), zeichnet er eine Spirale des Zerfalls sämtlicher Normen und Werte. Zusammengepfercht und weggesperrt in eine ausgediente, verfallene Nervenklinik müssen die Blinden völlig auf sich allein gestellt das Überleben lernen, wobei einzig und allein die einzige Sehende eine gewisse rudimentäre Ordnung überhaupt etablieren kann. Nicht auszudenken, wie das ganze ohne sie ablaufen würde. So besteht wenigstens eine kleine Hoffnung darin, jemanden zu haben, der einem sagt, wo das Essen steht, wo die Toiletten sind - ob es Tag oder Nacht ist. Sie tut allerdings gut daran, niemandem zu verraten, dass sie sehen kann. So wundert sich vielleicht der ein oder andere, warum sie sich besser orientieren kann, als der Rest, aber angesichts der eigenen Probleme nimmt man jede Hilfe gerne an. Es sind ja keine erfahrenen Blinden, den Umgang mit Stock und Hund und Dunkelheit gewohnt. Völlig halt- und orientierungslos irren sie mit ausgestreckten Armen durch die Gänge, froh nicht allein zu sein, dennoch ängstlich vor denen, die sich rascher anpassen und die Situation zum eigenen Vorteil umbiegen könnten. Kriegt wirklich jeder die gleiche Ration Essen? Kann ich meinem Bettnachbarn trauen? Hab ich es womöglich mit einem Schwarzen zu tun? Das alles sind Fragen, die stumm gefragt werden, jedoch angesichts der Situation schnell verschwinden. Schon bald gibt es Streit um Essen, Blockbildung und Gewalt. Und das alles angesichts vermummter, Gasmasken tragender Wachmänner, die ohne zu zögern schießen, nähert sich jemand der Mauer...
José Saramago, der die Romanvorlage schrieb, hatte nie Filmrechte an seinen Büchern verkauft. Und nun mit 80 Jahren wollte er eigentlich auch nicht damit anfangen. Aber irgendwie konnten die Produzenten ihn umstimmen, und nachdem einige Tests bestanden wurden, gab er sein OK - unter der Bedingung, dass der Film zu seinen Lebzeiten fertig werden müsse, sonst wäre er sauer. Als er dann nach der Vorführung mit den Tränen kämpfend im Kinosessel saß, lief sicher nicht nur dem Regisseur ein Schauer über den Rücken. Zu sehen im Making-of der DVD.
Stadt der Blinden ist kein schöner Film. Es tut manchmal fast körperlich weh weiterzuschauen, so krass und eindringlich sind die Bilder und Situationen, mit denen Meirelles uns konfrontiert. Aber er ist so packend und ergreifend, dass man ihn einfach schauen muss. Man will wissen, wie es weitergeht, ob es ein Danach gibt, ob die Blinden jemals aus ihrem Gefängnis herauskommen, ob es ein Heilmittel gibt - oder ob die ganze Welt ins Chaos stürzt. Eine dramatische Parabel zum Thema Sehen, Glauben und Vertrauen, die manchmal an die Grenzen des Erträglichen geht und die Metapher des Neu-Sehen-Lernens durchaus treffend thematisiert, ohne zu sehr mit dem erhobenen Zeigefinger zu fuchteln.
Krasser Film.