Sind sie ein Gammler? Die Reaktionen der neuen Vaganten in Peter Fleischmanns Film fallen so unterschiedlich aus, wie die der Passanten. Nach einem Studium am Deutschen Institut für Film und Fernsehen in München und am Institut des hautes études cinématographiques in Paris studiert der einstmalige Inszenator von Kurz- und Kinderfilmen für seinen Dokumentarfilm nun das Volk in München. Was wir lernen ist bereichernd, aufklärend und erschütternd.
Zunächst ist da der Typus des Gammlers an sich, für den sich Fleischmann so sensibel Zeit nimmt. Er entpuppt sich als weit vielschichtiger als der Nichtsnutz und Tagedieb, wie ihn die Polemik so gern sehen möchte. Gerade das Schnorren und anderen auf der Tasche liegen geht auch den Gammlern unter sich gegen den Strich, weil es offensichtlich unter ihnen auch Menschen gibt, die sich an dem Bisschen, was sie haben, ohne ein Dazutun laben wollen. Die Gammler treiben unterschiedliche Gründe auf die Straße. Ist es bei dem einen noch die Abenteuerlust, der Genuß des Lebens, so lange man jung ist und das Geld vom letzten Job noch genügt, ist es beim nächsten schon ein schweres Schicksal eines Außreißers, der nicht weiß wo er hin gehen soll, kann oder will, denn manchmal ist Stolz das Hindernis, mit gesenktem Kopfe wieder nach Hause zu gehen und ein Versagen einzugestehen.
So verwegen die Herumtreiber aussehen mögen, viele geben doch Zugang zu einer tiefen, herzlichen Gefühlswelt und Ideen von Leben und Gesellschaft, die man in der Weisheit des Alters manchmal belächeln möchte, welche jedoch auch davon zeugen, daß längst nicht alle Gammler ihr Dasein ohne einen Plan oder eine Zukunft betreiben. Fleischmann kann jedoch nicht von einer heilen Welt berichten, scheint doch das Aufsehen seiner Kamera die Passanten anzuregen, sich einmal den unheimlichen Gestalten zu nähern.
Herbst der Gammler könnte hier ein Bindeglied sein, über die Neugier der Bürger, welche wie in einen Zookäfig gaffen, aber sich doch zunächst zu interessieren scheinen, Verständnis zu erreichen. Doch es kommt anders. In der Gruppe schwillt der Grahm, als müsse man sich voreinander als Gesellschaft profilieren. Vorwürfe in Richtung eines Anpassungsdranges werden laut. Vielleicht spricht heimlich der Neid aus den Menschen, die behaupten, daß man doch arbeiten müsse. Man steigert sich in seiner Wortwahl, bis daß unverblühmt die Methodik des Dritten Reiches herbeigewünscht wird und dabei sind es nicht nur die Alten, sondern gerade auch junge Leute, die sich in ihren drastischen Äußerungen direkt in die Kamera hervor tun.
Unbewußt dokumentiert Peter Fleischmann in Herbst der Gammler so auch eine Motivation für eine ganze Generation von Revolutionären, die auf ihre Art versuchen würden, diese rückständigen Stimmen verstummen zu lassen. Der Film ist so wichtiges Zeugnis auch insbesondere für den deutschen Film. Ferner jedoch gewinnt Fleischmanns Film zusätzlich als Zeitreise, die kaum eine zu sein scheint. Was man sich aus den Berichten von Zeitzeugen kaum bereimen kann, was Eltern nicht vermitteln können oder wollen zeigt er durch diese einfachen Bilder. Ohne das Wissen um die zeitliche Zuordnung hätte ich Herbst der Gammler nicht unbedingt als eine Momentaufnahme des Jahres 1966 gesehen.
Die Gammlerszene ist bei den Dreharbeiten noch so unbelastet von Freizeitphilosophen der späteren 68er Bewegung, daß es gar verpönt wird, nachts im feinen Hause zu residieren und sich nur zum Zeitvertreib dem Straßenproletariat zuzugesellen. Man ist noch entfernt vom Konsumhippie und selbst die Kommune 1 war noch nicht gegründet. Frei von der Leber weg hätte ich nahezu jedes dieser Straßenkinder als eines identifiziert, mit dem ich selbst in meiner Sturm- und Drangzeit in den 90ern zu tun gehabt habe. Während also die zeitlichen Umstände und äußeren Einflüsse im Wandel sein mögen, so scheint sich an der Jugend als solches nicht viel verändert zu haben. Diese Erkenntnis hat mir sehr viel gegeben.
Wie schwer es allerdings der Gammler in den 60ern hatte, belegt Der Spiegel 44/1967, der von schierer Gammlerverfolgung berichtet. Nicht nur Schikane durch die Behörden kommt hier zur Sprache, sondern auch drastische Maßnahmen. Im Juli 1967 hätten in Hannover “städtische Arbeiter unter dem Jubel von Passanten die Gammler mit Wasserschläuchen, Desinfektionsmitteln und Kehrbesen von ihren Stammplätzen vertrieben”. Peter Fleischmann findet hier nicht nur wegen seines Films Herbst der Gammler Erwähnung. Zusammen mit dem Münchner Rechtsanwalt Alfred Meier habe er einen “Menschenschutz-Verein” gegründet. “Satzungsziel des Menschenschutz-Vereins ist es, “unterprivilegierte Mitbürger bei ihren … Schwierigkeiten mit der Gesellschaft und ihren Organen … ideell und materiell” zu unterstützen.”