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Ein Matrose eines Container-Schiffs erbittet Landurlaub, um nach Jahren sein Heimatdorf in Feuerland zu besuchen und zu sehen, ob seine Mutter noch lebt. Zumindest begründet er so seine Bitte nach Landurlaub beim Kapitän. Was seine tieferen Beweggründe sind, nach Jahren des Fortseins sein Heimatdorf zu besuchen, bleibt reine Interpretationsmasse. Antworten gibt der Film nicht. Nur, dass sich vor Jahren ein inzestuös bedingtes Familiendrama abgespielt zu haben scheint.

Der Regisseur sagt, der Film solle einen Mann auf Sinnsuche darstellen. Na ja, wenn er meint. Kann man so interpretieren, muss man aber nicht. Denn Fakt ist bloß, dass "Liverpool" in vielen Bildern und sehr, sehr wenigen Worten die einsame und Tage dauernde Reise des in sich gekehrten und offenbar Alkohol-abhängigen Seemanns vom Hafen zu der Stätte seiner Jugend begleitet, fertig.

Interessant ist, dass der Protagonist dieses Films gar nicht die Hauptrolle in diesem Film zu spielen scheint, obwohl er in jeder Szene zu sehen ist. Nachdem er auf seiner beschwerlichen Reise einen Ort verlassen hat und weiter zieht, verweilt die Kamera noch jeweils minutenlang dort und beobachtet das Geschehen.

Doch es passiert nichts mehr, was mit ihm zu tun hätte. Ganz so als würde der Protagonist auf den Stationen seiner strapaziösen Reise nirgendwo die nachhaltige Aufmerksamkeit anderer Menschen erwecken, als würde er nirgendwo einen Eindruck hinterlassen. Nirgendwo (außer damals in seinem Heimatdorf). Nicht mal am Anfang des Films, als er vom Container-Schiff aus aufbricht, hinterlässt er Spuren: Das Hab und Gut, welches er in seiner Schiffskabine hatte, passt in eine kleine Reisetasche.

Vielleicht ist genau das die Tragik von "Liverpool". Einen einsamen Mann zu sehen, der keine Wurzeln mehr und nirgendwo mehr ein Standbein hat. Ein Mann, der eine gescheiterte Odyssee absolviert und tagelang durch die wilde Natur latscht und doch nichts erreicht, obwohl er am Ende sein altes Heimatdorf und seine Familie erreicht.

Was in dem Kerl vorgeht und was seine Intentionen, Hoffnungen und Ziele sind, bleibt wie gesagt reine Interpretationsmasse. Antworten gibt "Liverpool" so gut wie nicht. Das ist aber nicht schlimm. Denn in seinem Minimalismus, in seinen schlichten, doch großartigen Bildern dürfte der Film bei jedem Betrachter ein individuelles Kopfkino abspielen.

Jeder Zuschauer wird irgend etwas assoziieren. Jeder wird sich eine Geschichte hinter der (kaum vorhandenen) Handlung von "Liverpool" ausmalen. Jeder wird sich vorstellen wie wohl das Leben dieses Mannes, der sich aufgrund eines früheren Fehlverhaltens offenbar von der Welt isoliert hat, in den letzten Jahren ausgesehen haben mag. Jeder Betrachter wird für sich Gründe finden, warum der Protagonist beschließt, sich selbst mit der eigenen Vergangenheit zu konfrontieren. Jeder Zuschauer wird für sich selbst entscheiden, was in der Seele des Protagonisten vorgeht.

So mag "Liverpool" kein konkreter Film sein, und wegen seiner Handlungsarmut und Langsamkeit dürfte er bei großen Teilen des Publikums verhasst sein. Aber es ist ein Film, der dem Zuschauer die Interpretationshoheit lässt. Ein Film, der in tollen Bildern zum Assoziieren und Ausmalen einlädt. Ist doch auch mal was. 

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