Review

In seinem Aufsatz zu Greenaways Spielfilm "Prospero's Books" (1991) schreibt Bernd Kiefer: "Greenaway macht Prospero unversehens zum Autor des Dramas The Tempest, das doch von ihm handelt, macht ihn zum Autor seiner Geschichte. Ist Prospero also Shakespeare? - Gewiss kennt Greenaway all die Zweifel an der Autorenschaft des einfachen Schauspielers Shakespeare, der all diese Dramen nicht geschrieben haben kann, weil in ihnen intertextuell ein All-Wissen verarbeitet ist, über das ein Schauspieler um 1600 nicht verfügen konnte. Und Greenaway kennt gewiss all die Theorien, wer nun die Autoren gewesen sein könnten, die unter dem Namen Shakespeare firmierten. Greenaway macht aus diesen Zweifeln und Theorien sein Phantasie-Spiel: das von Prosperos Bücher. Vierundzwanzig Bücher konnte Prospero auf seine Insel retten und aus ihnen bezieht er all sein Wissen."[1]
In "The Pillow Book" übernimmt Greenaway nicht nur die vielfach gestaffelten Bildebenen (per Überblendung, Schriftzügen und Split Screen fächert sich der Film in viele, einander überlappende und/oder nebeneinanderstehende Ebenen auf) aus "Prospero's Books", auch das Motiv des Buches (das in beiden Titel auftaucht) und des in ihm gesammelten Wissens spielt hier erneut eine gewichtige Rolle.

Greenaway wird hier die Prägung des Menschen und des Buches durch Menschen und durch Bücher zu einem zentralen Thema machen - und dabei die Grenzen zwischen Buch und Mensch spielerisch verwischen: einmal, insofern ein Buch (so die eine These des Films) immer einen Teil des Verfassers bzw. der Verfasserin (im Falle von "The Pillow Book" die treffendere Wortwahl) enthält und enthalten muss, da diese(r) nur in das Buch stecken kann, was vorher schon in ihm/ihr war; und einmal, insofern der Mensch hier sowohl wortwörtlich als auch im übertragenen Sinne anfangs ein unbeschriebenes Blatt ist (und ein beschreibbares und später ein beschriebenes).

"The Pillow Book" geht zurück (der Titel sagt es bereits) auf den großen Klassiker der japanischen Literatur, auf das "Kopfkissenbuch" der Sei Shonagon. Aus diesem bekommt in einer der vielen Rückblendungen des Films die 4jährige Nagiko an ihrem Geburtstag von ihrer Tante ein paar Seiten vorgelesen. Gemäß eines Geburtstagsrituals wird Nagiko von ihrem Vater, einem Kalligraphen, im Gesicht und am Nacken beschriftet - ein Ritual, das sich jedes Jahr wiederholen wird.
An ihrem sechsten Geburtstag beschließt sie selbst, ein Tagebuch wie Sei Shonagon zu führen, um es mit allen möglichen schönen Eindrücken zu füllen. Doch zugleich ist ab ihrem sechsten Geburtstag ihre Hochzeit mit dem Sohn des Verlegers (der sich mit ihrem Vater während der Geburtstagsfeier - und auch später mehrfach - sexuell vergnügt und auch für die geplante Hochzeit verantwortlich ist) beschlossene Sache.
Nagiko wächst auf und heiratet den Verlegerssohn - ein herrischer Macho, der ihr nur hundert Bücher gestattet und ihr auch die rituelle Geburtstagsbemalung verweigert, weshalb ihr eigenes Kopfkissenbuch aus einer Aufzählung negativer Dinge bestehen wird. Nach einiger Zeit verbrennt Nagiko all ihre Aufzeichnungen, verlässt ihren Mann und flüchtet nach Hongkong. Dort führt sie auf sich allein gestellt ihre rituelle Bemalung ohne großen Erfolg selber durch und sucht sich - da aus dem einstigen Geburtstagsritual längst ein erotisches Vorspiel vor dem Geschlechtsakt geworden ist - immer wieder neue Partner, die ihr als Kalligraph und Liebhaber dienlich sind. Doch die älteren sind als Liebhaber offenbar eher eine Enttäuschung, die jüngeren hingegen lassen sich als Kalligraphen zu leicht ablenken: ein zurückhaltender Mathematiker, ein gealterter professioneller Kalligraph, ein schüchterner Büroangestellter, ein junger Graffiti-Künstler mit ökologischem Anliegen, der während des Beischlafs von einer herbeistürmenden obskuren Bande anderer Sprayer überwältigt wird, während sie Nagiko verschleppen und die Schriftzeichen abfotografieren. Bei diesem Zwischenfall lernt sie den in sie vernarrten Fotografen Hoki kennen, der der Bande behilflich war.
Doch dann lernt sie den Europäer Jerome kennen und lieben und beginnt auf seine Anregung damit, ihrerseits ihre Partner zu beschreiben und die Ergebnisse von Hoki fotografieren zu lassen.
Die Texte schickt sie über Hoki bald dem Verleger ihres Vaters zu, der sie jedoch ablehnt. Doch da Jerome - mittlerweile ihr fester Liebhaber - auch der Liebhaber des Verlegers ist, schickt sie ihre Texte auf seinen Körper geschrieben erneut dem Verleger zu, der nun auch zusagt. Doch die Beziehung zwischen Jerome und dem Verleger erweckt ihre Eifersucht, weshalb sie Jerome meidet und sich andere Partner für die Kalligraphie sucht. Der leidende Jerome lässt sich von Hoki überreden, mit Tabletten einen Suizid vorzutäuschen, um durch einen heilsamen Schreck Nagikos Liebe zurückzugewinnen, kommt dabei jedoch tatsächlich ums Leben. Ein letztes Mal von Nagiko beschriftet - er ist ihr sechstes Buch ("Das Buch des Liebhabers" betitelt) - wird Jerome nach der Beerdigung von Helfern des Verlegers ausgegraben und gehäutet. Die Haut wird gereinigt und zu einem Buch verarbeitet, während Nagiko das zweite große Feuer in ihrem Leben entfacht und erneut ihre Bücher (und das restliche Hab und Gut) verbrennt. Sie erfährt durch Hoki von der Tat des Verlegers und lässt ihm fortan noch sieben Bücher zukommen (sie hatte Jerome 13 Bücher versprochen), die als Tauschobjekt gegen das aus Jerome gefertigte Buch dienen sollen. Das dreizehnte Buch, das "Buch des Todes" stellt zugleich auch die Bestrafung des Verlegers dar, der ihren Vater erpresst, die Zwangshochzeit veranlasst und Jeromes Leichnam geschändet hat: die mit einer Anklage beschriftete Person schneidet dem reuigen Verleger mit dessem Einverständnis die Kehle durch.
Nagiko erhält das Buch, das einst Jerome war, und beerdigt es unter einem Zierbaum, sie bringt ihr Kind (und das Kind Jeromes) zur Welt und beginnt (inzwischen großflächig tätowiert) ab ihrem 28. Lebensjahr, als das "Kopfkissenbuch" der Sei Shonagon tausend Jahre alt ist, mit der Niederschrift ihres eigenen Kopfkissenbuches.

Dass Nagikos Versuche eines eigenen Kopfkissenbuches je nach Lebenserfahrung und Lebensqualität höchst unterschiedlich ausfallen, ist vielleicht der auffälligste, zugleich aber auch unspannendste Aspekt der Prägungsgeschichte von Buch und Mensch; die Erkenntnis ist geradezu tautologisch. Interessanter ist da der Aspekt des Menschen als unbeschriebenes Blatt, der von den Mitmenschen nach und nach mit Texten und Inhalten aufgefüllt wird: Greenaways Inszenierung der Beschriftung Nagikos durch ihre Liebhaber ist nicht nur Schilderung eines erotischen Vorspiels, sondern auch die Metapher einer im beständigen Fortschreiten befindlichen Bildung, Ausweitung und Variation des eigenen Ichs durch den Kontakt mit anderen. So wie Nagikos Haut quasi als Buch (die Gleichung wird bei Jerome noch deutlich werden) mit Zeichen und Inhalten aufgefüllt wird, so wird auch ihr Denken und ihre Erfahrung aufgefüllt durch die Kommunikation mit anderen - und zwar sowohl mit anderen Menschen, als auch mit anderen Texten (in welche eingeflossen ist, was in den entsprechenden Autoren steckt).
Für die Bücher selbst wird ebenfalls noch eine interessantere Prägungsgeschichte beschrieben, die über das Entstehen des Textes aus dem Bewusstsein des Verfassers hinausgeht - in einem der Untertitel lässt Greenaway fragen: "Wo ist ein Buch, bevor es geboren wird? Wer sind die Eltern eines Buches? Braucht ein Buch zwei Elternteile - eine Mutter und einen Vater? Kann ein Buch in einem anderen Buch geboren werden? Wo ist das Ur-Buch aller Bücher? Wie alt muß ein Buch sein, bevor es gebären kann?" (01:36:10)[2]

Hier bringt Greenaway verschiedenes zur Sprache - in erster Linie thematisiert er die Intertextualität, die sich in der Postmoderne (der Greenaway trotz seines elitären Hangs zur Hochkultur vielfach zugeordnet wird, da sich Ironie, Beliebigkeit, Leugnung einer sicher erkennbaren Wahrheit und Kritik am traditionellen chronologischen, von Kausalzusammenhängen geleiteten Erzählen immer wieder in seinem filmischen Werk feststellen lassen) größter Popularität erfreut.
Der (eher zu seinem Unwillen) häufig der Postmoderne zugerechnete Regisseur thematisiert hier eines der Merkmale der Postmoderne, das auch in "The Pillow Book" anzutreffen ist - wie in so ziemlich all seinen Filmen. Bezieht man Nagikos Fragen zum "Buch" auf Kunstwerke im allgemeinen, dann kann man auch "The Pillow Book" mit der Frage nach der Herkunft konfrontieren und gleich auf mehrere "Elternteile" zurückführen: das "Kopfkissenbuch" der Sei Shonagon, "Prospero's Books" von Greenaway selbst, "Adam und Eva" von Lucas Cranach dem Älteren, japanische Aquarelle, "Romeo and Juliet" von Shakespeare und das "Pater Noster" sind nur einige der Werke, die hier eingeflossen sind.
Greenaway erweist sich hier als ausgesprochen selbstreflexiv und weist den Zuschauer damit ausdrücklich auf die Beschaffenheit des Filmes hin.
Abgesehen von solcherlei direkten Zitaten ist die Herkunft eines Werkes sicherlich schwerer zu erklären. Im Falle von Nagikos "Kopfkissenbuch" kann zunächst nur das der Sei Shonagon als ein Herkunftsort genannt werden.
Doch die Frage nach den Elternteilen, die auch ausdrücklich auf die Geschlechtszugehörigkeit verweist, verweist noch in eine ganz andere Richtung. Sie konfrontiert die Entstehungsgeschichte eines Werkes mit einem Geschlechterverhältnis: Das hat seinen Grund sicherlich auch darin, dass das "Kopfkissenbuch" der Sei Shonagon "von einer Frau, die in einer Männergesellschaft lebte, zu einer Zeit, in der die meisten Frauen weder lesen noch schreiben konnten" (so das Booklet der Galileo Medien DVD) geschrieben wurde - aber bereits in seinen vorherigen Filmen (und auch in einigen der späteren) ging es fast immer um Emanzipationsgeschichten von Frauen bzw. Untergangsgeschichten von Männern und/oder um die Unterdrückung von Frauen durch Männer: in "The Draughtsman's Contract" (1982), in dem der Maler Neville einer Intrige seiner Auftraggeberin und ihrer Tochter erliegt, die ihn als Erzeuger für ihre Zwecke nutzt; in "The Belly of an Architect" (1987), in dem ein Architekt in seinem Bauch einen Krebstumor ausbrütet, während seine Frau schwanger ist; in "Drowning by Numbers" (1988), in dem drei Frauen (Tochter, Mutter, Großmutter) ihre Männer ermorden und schließlich auch den sie deckenden Leichenbestatter, während zugleich ein Junge in den Freitod geht um den Unfall seiner Freundin zu sühnen; in "The Cook, the Thief, his Wife and her Lover" (1989), in dem eine Frau ihren tyrannischen Mann betrügt und sich nach seinem Rachekt mit für ihn tödlichen Folgen auflehnt; in "The Baby of Mâcon" (1993), in dem die Geistlichen die vermeintlich jungfräuliche Mutter eines Wunderknabens zu Tode vergewaltigen lassen.
Die Geburt durch die Frau, der Tod des Mannes oder Emazipation(sversuche) durchziehen viele seiner Filme, so auch "The Pillow Book", der die Geburt besonders betont und in die Nähe zum künstlerischen Schaffungsprozess stellt: So überlappt sich ganz offensichtlich die Entstehung von Nagikos "Kopfkissenbuch" mit der Geburt ihres Sohnes - und beide Geburten sind mit der Hilfe Jeromes entstanden.[3] In beiden Fällen wäre es fatal, hier die althergebrachte sexistische Vorstellung bestätigt zu sehen, nach der die Frau austrägt, was der Mann in sie hineinsteckt. Hier bringt die Frau zur Welt und zu Papier, was aufgrund eines gleichberechtigten Verhältnisses zu einem Mann in ihr herangewachsen ist: Ihre Beziehung zu Jerome hat sie derartig geprägt, dass sie ihr Buch über die schönen Dinge des Lebens schreiben kann, und ihr sexuelles Verhältnis mit Jerome ließ sie schwanger werden. Auffällig ist es, dass Jerome so ziemlich der einzige Mann des Films ist, der Nagiko mit Respekt gegenübergetreten ist, sie nicht nach seinem Bilde formen wollte und mit dem sie ein gegenseitiges Beschreiben (bemalen wie prägen) praktiziert hat: die Geburt eines angestrebten Guts wird in "The Pillow Book" als Folge eines gleichberechtigten Austausches gedeutet, die hingegen in repressiven Verhältnissen unmöglich ist (in der Zwangsheirat bringt Nagiko nur ein Buch der negativen Dinge zustande). Diesen Austausch sucht Nagiko, die wie ihr großes Vorbild in recht repressiven Verhältnissen lebt (ihr Ehemann wird erwählt als sie sechs ist), lange Zeit vergebens.
So gesehen gerät "The Pillow Book" noch zu einem Emanzipationsdrama, das wie so oft bei Greenaway in nur sehr geringem Ausmaß emotional anrührend gerät.[4]

Doch auch wenn Greenaway zum oftmals tragischen Geschehen seiner Filme eine (häufig als kühl kritisierte) Distanz wahrt, es gar ironisch bricht oder anderweitig ins Humoristische kippt, so ist er einer ernsthaften Sinnlichkeit jedoch keineswegs abgeneigt: er betont zwar immer wieder die Vergänglichkeit des Körpers, seine Körperfunktionen und Ausscheidungen, seinen Verfall und seine Deformierbarkeit (und sieht wohl deshalb selbst eine Parallele zu seinem Kollegen Cronenberg), die Sexualität jedoch reduziert er keineswegs um die enthaltene Sinnlichkeit und Erotik zu einem mechanischen Vorgang des Austauschens der Körpersäfte - er beschneidet zwar Tod und Zerfall um die emotionale Wirkung des Tragischen des Dahinscheidens und Verschwindens (das nur noch intellektuell, aber kaum mehr gefühlsmäßig wahrnehmbar ist), lässt aber der Sexualität neben der Funktion der Reproduktion auch den sinnlich-aufreizenden Aspekt, lässt dem nackten Körper (egal ob dickleibig oder normalgewichtig, ob gealtert oder jung) seine Schönheit. (Dass Greenaway von der Malerei und nicht von der Literatur zum Film kam, mag ein Grund sein, warum er dem Schönen mehr Hingabe widmet als dem Dramatischen.)
Wenn der Architekt Kracklite (Brian Dennehy) in "The Belly of an Architect" seinem behandelnden Arzt gegenüber die Sicht auf den Körper durch die Augen des Arztes zum (nicht ganz ernsthaften) Vorwurf macht, und sich selbst dem Körper über Fotos von Statuen und nackten Leibern nähert, dann steckt darin zur Hälfte Greenaways eigner Blick auf den Körper: Greenaway entspricht Kracklite, indem er die Ästhetik des Körpers ausdrücklich betont - und Greenaway widerspricht Kracklite, indem er den nüchtern-medizinischen Blick nicht leugnet, sondern ihn in diese Ästhetik einbindet. Greenaway folgt einer Rosenkranzschen "Ästhetik des Hässlichen", scheut nicht davor den Leichnam, den Erkrankten, den Verstümmelten oder die Fäkalien in seine ästhetische Bilderwelt einzubauen; und neben der bei Rosenkranz geschilderten Motivation der Schöpfer der Vor-Bilder Greenaways[5], die diesen ebenfalls antreibt, treibt ihn auch ein moderner Hang zur Enttabuisierung an: seine Ausstellung "The Physical Self" (1991, Rotterdam) mit nackten Personen, die sich hinter Plexiglas dem Publikum stellten, spielte etwa recht deutlich mit Tabu, Scham und Natürlichkeit.
Greenaway ist an der Ästhetik des Körpers interessiert, am Schönen und Hässlichen, weit weniger jedoch am Individuum, dessen Leiden und Sterben bei Greenaway zwar ästhetisch, aber nur begrenzt emotional geschildert wird: wie bereits gesagt, kommt er von der Malerei und nicht von der Literatur zum Film.[6]

Lange Rede, kurzer Sinn: trotz mangelnder Emotionalität bieten Greenaways Filme mitunter durchaus sinnliche Erotik.[7]
Im Hinblick auf die Erotik bei Greenaway erfüllt die Kalligraphie in "The Pillow Book" auch den Zweck der Fetischisierung. Und zwar nicht nur für die Hauptfigur Nagiko (oder jene junge Dame, die sich Jahre nach dem Film bei einer Tour Greenaways sein Autogramm auf ihren Bauch schreiben ließ), sondern auch für das Publikum, das an den Freuden der Kalligraphie vermutlich größtenteils kein allzu großes Interesse haben dürfte, wie es auch das im Film vorgeführte Geburtstagsritual niemals durchlaufen haben dürfte.
Ein erster, relativ unbedeutender Reiz des Schreibens auf den Körper liegt sicherlich in der intimen Kontaktaufnahme, die eine Verführung darstellt, insofern sie unter dem Deckmantel der harmlosen Schreibtätigkeit bereits ein lustvolles, unausgesprochenes Versprechen verbirgt. (Damit spielen schon die harmlosen Schulzeit-Flirts, bei denen man sich gegenseitig Telefonnummern und ähnliches auf die Unterarme schreibt - ähnlich der Szene in "The Pillow Book", in der Jerome Nagikos Hand als Cheque zweckentfremdet um zu bezahlen.)
Doch hier liegt nicht der eigentliche erotische Reiz dieser Szenen. Dieser ist in der Kalligraphie enthalten wie in der Tätowierung oder der Schminke (freilich sind alle drei Phänomene nicht auf diesen Aspekt der Fetischisierung einzuschränken) - die Kalligraphie überbetont ganz einfach Teile des beschriebenen Körpers: die unbemalte Hand im Anschluss an den mit dicken schwarzen Schriftzeichen bedeckten Unterarm, der nackte, reine Brustkorb unter dem vom Scheitel bis zur Achselhöhe mit Buchstaben bedeckten Bereich (also die nackten Brüste unter dem quasi verschleierten Gesicht), der unbeschriftete Genitalbereich des einen Männerkörpers, der von der Mitte der Oberschenkel an abwärts und vom Bauchnabel an aufwärts beschriftet ist, der beschriftete Rücken Jeromes mit den darunterliegenden freien Hinterbacken, all diese Inszenierungen des Körpers[8] arbeiten mit dem Mittel der Fetischisierung, dem Baudrillard in Anlehnung an Freud vom Strumpfband bis zum Lidschatten eine gemeinsame Funktionsweise zuweist: "Die Erotisierung besteht also immer im Hervorheben eines Körperfragments durch einen Querstrich, durch eine Trennungslinie, in der phallischen Phantasmatisierung dessen, was jenseits dieser Linie in der Position des Signifikanten liegt, und in der gleichzeitigen Reduktion  der Sexualität auf den Status eines Signifikats (eines repräsentierten Wertes). [...] Dieser Vorgang lässt sich noch im kleinsten Detail erkennen. Das Kettchen, das das Hand- oder Fußgelenk umschließt, der Gürtel, die Halskette, der Ring machen den Fuß, die Taille, den Hals, den Finger zum Erektil. [...] (Schmuck, Schminke oder Verletzung, alles kann diesen Zweck erfüllen) [...] In unzähligen Variationen wird so der ganze Körper für die Markierung/Verstümmelung und die anschließende phallische Verehrung (erotische Überhöhung) verfügbar."[9]
Zumindest die erotische Wirkung solcherart "gezeichneter Körper" (so der Titel des Kapitels) werden die wenigsten leugnen - mag man Baudrillards (an Freuds Fetisch-Theorien angelehnte) Begründung dieser Erotisierung/Fetischisierung durch Trennungslinien und Markierungen nun zustimmen oder auch nicht. Ob man es tut oder nicht, ist egal - es reicht, dass der Text existiert, um Greenaway (der ihn sicherlich gelesen haben dürfte) bzw. seinen Film zu diesem in Bezug zu setzen. Und da erweist sich Baudrillard durchaus als fruchtbar, wenn man Nagikos kurze Beziehung zu dem jungen Graffiti-Sprayer einbezieht.
Das Verhältnis der beiden ist zwar freundschaftlich, aber es gibt unübersehbare Differenzen: sie nimmt die Kalligraphie ernst, er ist leicht abzulenken; sie will in ihrer Rolle als Modell (in welche sie für einige Zeit schlüpft) dem Publikum gefallen und daran verdienen, er würde ein Publikum lieber erschrecken und ohne Geld auskommen; sie ist tendenziell bibliophil, er gehört zu den ökologisch denkenden Protestkünstlern, von denen einige vor dem Verlagshaus gegen die Papierindustrie protestieren.[10]
Stellt man nun die Gebiete, denen beide ihr Hauptaugenmerk widmen (Kalligraphie und Graffiti) gegenüber, so entstehen gleichfalls unübersehbare Differenzen. Die Graffiti sind im Gegensatz zur Kalligraphie nicht zwangsläufig mit der Schönschrift verbunden (und anhand seiner Äußerungen scheint der Sprayer das Schöne auch nicht zu seinem ersten Anliegen zu machen; sehen wird man seine Graffiti allerdings nicht.) Zudem sind Graffiti bei Baudrillard an einen subversiven Akt gebunden: indem er davon ausgeht, dass sie in der Regel keinen Inhalt transportieren[11] und dass sie ihre Schreibflächen von jeder "funktionalen und institutionellen Markierung"[12] beseitigen, macht er sie zu einer "Verdrehung und Verkehrung des Codes, die ihn in seiner eigenen Logik, auf seinem eigenen Terrain besiegt, weil sie seine Referenzlosigkeit überbietet."[13]
Geht man davon aus, dass die Graffiti von Nagikos Partner diese Bedingungen erfüllen und nicht in der Folge seiner ökologischen Ausrichtung eher dem entsprechen, was Baudrillard über die Wandfresken der Ghettos schreibt (man erfährt es nicht - allein ein Mitglied der Bande sieht man Wand samt Fotos besprühen, ohne dass es sich dabei überhaupt noch um Schriftzeichen handelt: die Graffiti, die man zu Gesicht bekommt, entsprechen also durchaus beiden Charakterisierungen Baudrillards), so stehen sie Nagikos Körper-Kalligraphie auch mit ihrem subversiven Charakter entgegen. Denn diese ist nicht die auf den Körper übertragene Tätowierung der Wände, von der Baudrillard spricht. Sie entsprechen hingegen - wie beschrieben - der Fetischisierung des Körpers durch Schmuck und Schminke. Wenden sich die Grafftis durch die Überhöhung des Codes gegen diesen, so arbeitet die fetischisierende Körperinszenierung mit den Codes und letztlich gegen den Körper. Das gleiche gilt auch für die Mode, das große Kapitel, das Baudrillard dem "gezeichneten Körper" vorangehen und dem Unterkapitel über die Graffiti folgen lässt, und zugleich das zweite große Beschäftigungsfeld, dem sich Nagiko widmet, welche nach ihrer Ankunft in Hongkong in der Modebranche tätig ist - zunächst im Büro eines Designers, aber auch als Mannequin auf dem Laufsteg (zu diesem Zeitpunkt ist sie auch mit dem Graffitischreiber zusammen). Auch die Mode wird bei Baudrillard zur "Inszenierung des Körpers."[14] Im Gegensatz zu den Graffiti "kann die Mode nicht subversiv sein, da sie keinen Referenzpunkt hat, zu dem sie sich in Widerspruch setzen könnte (ihr Referenzpunkt ist sie selber). Man kann der Mode nicht entgehen (denn die Verweigerung von Mode ist ein Bestandteil der Mode selber - die Blue-Jeans sind ein historisches Beispiel dafür)."[15]
"The Pillow Book" nimmt mit der Verwendung von Graffiti, Mode und "gezeichnetem Körper" Bezug auf drei aufeinanderfolgende Kapitel aus Baudrillards Hauptwerk, der nicht zufällig zu sein scheint, wie noch zu zeigen sein wird.

Mit Nagiko hat Greenaway nicht nur die Hauptfigur des Films geschaffen, sondern auch (was wichtiger ist) eine positiv präsentierte Figur. Greenaway sieht also das Spiel mit den Zeichen und Codes in deren Dienste durchaus nicht negativ.
Schaut man auf das zentrale Thema aus Baudrillards "Der symbolische Tausch und der Tod", nämlich auf "die strukturale Revolution des Wertes"[16], so wird es sich auch als das zentrale Thema in "The Pillow Book" erweisen - wenn auch unter anderem Vorzeichen. Im Kapitel zur erwähnten Revolution heißt es bei Baudrillard: "Saussure gab dem Austausch der sprachlichen Ausdrücke zwei Dimensionen, indem er sie mit dem Geld verglich: ein Geldstück muß sich gegen ein wirkliches Gut von einigem Wert eintauschen lassen, es muß sich aber auch in Beziehung zu allen anderen Ausdrücken des Geldsystems setzen lassen. Diesem zweiten Aspekt behielt er mehr und mehr den Begriff des Werts vor: der Beziehbarkeit aller Ausdrücke aufeinander, die dem Gesamtsystem innewohnt und sich aus distinktiven Oppositionen herleitet - im Gegensatz zur anderen möglichen Definition des Werts: der Beziehung jedes Ausdrucks auf das, was er bezeichnet, des Signifikanten auf sein Signifikat [...]. Der erste Aspekt entspricht der strukturalen Dimension der Sprache, der zweite Aspekt ihrer funktionalen Funktion."[17] Diese Revolution ist bei Baudrillard dabei, alles zu durchdringen: "Das Flottieren (Floating) der Zeichen"[18] inszeniert die Körper, die Städte, die Diskurse und schafft so eine Welt der Simulakren: nach der Imitation, die er der Rennaissance zuordnet, und der seriellen Produktion des industriellen Zeitalters, sei "die Simulation [...] das bestimmende Schema der gegenwärtigen Phase, die durch den Code beherrscht wird."[19] "Es gibt Modelle, aus denen alle Formen durch eine leichte Modulation von Differenzen hervorgehen."[20]
In "The Pillow Book" ist es letztlich egal, ob Nagiko vermeintlich eigene Texte niederschreibt (wobei es Anzeichen genug gibt, dass sie zumindest das "Kopfkissenbuch" der Sei Shonagon als Modell benutzt), oder ob sie das "Pater Noster", mathematische Formeln, Cheques oder Namen schreibt oder schreiben lässt, ein- oder mehrsprachig: die beständig wechselnden Inhalte, die die Wissenschaft, die Ökonomie, die Ökologie, die Literatur, die Religion streifen, sind letztlich egal, es geht in erster Linie ohnehin nur um die bloße Form der Schriftzeichen.[21] Hier erreicht der Vorrang der Signifikanten vor den Signifikaten seinen absoluten Höhepunkt, indem (gemäß diverser Überlegungen aus Kunst und Wissenschaft zur Intermedialität) der Text zum Bild wird.
Das gilt nicht bloß für Nagiko und ihre Partner (die man als Alter Egos Greenaway sehen mag), sondern auch für Greenaway, der gemeinsam mit seinem Stamm-Cutter Chris Wyatt das Bild um kunstvoll eingeflochtene Untertitel ergänzt, die immer auch und bisweilen nur noch dekorativen Charakter haben. Im weitesten Sinne gilt das nicht nur für die verschriftlichten Texte, die in "The Pillow Book" den gesamten Film durchziehen: Greenaways Zitate und Verweise sind durchdrungen von diesem Vorrang der Signifikanten, die hier entweder als rein ästhetischer Eigenwert einfach da sind, oder auf einer Metaebene - wie schon so oft bei Greenaway, vor allem aber in "Z00 - A Zed and Two Noughts" (1985) - die Unmöglichkeit der Aufdeckung von Sinn, bzw. der Unterscheidung von kausalem Zusammenhang und Zufall zum Ausdruck bringen; was ihren narrativen Nullgehalt (die Handlung treiben die Zitate nicht voran, sind eher tautologische Doppelungen, wenn etwa der Liebestod im Stil von "Romeo and Juliet" nur darauf verweist, dass ein Liebender sich vergiftet, weil er die Geliebte entrissen glaubt) und ästhetischen Eigenwert nochmals zum Ausdruck bringt, indem dieser Greenawaysche Kniff (die Inszenierung von Zufällen, die sinnträchtig wirken - nicht zuletzt deshalb, weil sie inszeniert sind) auf seine eigene Unbestimmtheit und Unentschiedenheit verweist.
Greenaway gibt sich also in "The Pillow Book" einmal mehr den "flottierenden Zeichen" hin, die er geradezu feiert (und wohl nicht nur, weil er sie zuallererst aus ästhetischen Gesichtspunkten heraus begreift), und verweist dabei über Schrift, Graffiti, Mode und Körperzier sehr direkt auf Baudrillard - zugespitzt könnte man sagen, dass er (absichtlich, zufällig?) mit "The Pillow Book" Baudrillards Hauptwerk viel eher verfilmt hat als das "Kopfkissenbuch" der Sei Shonagon, dem er mit seinen Auflistungs-Experimental-Kurzfilmen schon Jahre zuvor viel, viel näher stand. Er, der mit (eigentlich eher poststrukturalistischen) strukturalistischen Experimentalfilmen und postmodernen Spielfilmen Bekanntheit erlangt hat, folgt hier der Baudrillard-Lektüre aus einem anderen Blickwinkel heraus und feiert die Simulakren und flottierenden Zeichen Baudrillards als das Prinzip seiner eigenen (Film-)Kunst.

In gewisser Weise steht sich Greenaway mit dieser Haltung auch ein wenig im Bilde: sein Versuch, mit wechselnden Filmformaten innerhalb eines Spielfilms einem konventionell gewordenen, gewissermaßen aufgezwungenen Bildformat zu entkommen, bleiben zum Scheitern verurteilt - denn gerade die penible Konzentration auf das Format hebt es im Gegenteil eher hervor. "The Pillow Book" verlangt nach der korrekten Projektion auf eine perfekte Leinwand, die wie immer durchkomponierten Bilder und die Cadrage machen es völlig unmöglich, sich über das Format hinwegzusetzen, wie es etwa die Film-Happenings betreiben (etwa von Valie Export). Würde man sich - quasi die cineastische Variante von Nagikos Literatur-Rezeption (mit einem entscheidenen Unterschied) - Filme auf den eigenen Körper projizieren wollen, allerdings gerade ohne Rücksicht auf das Bildformat (so wie in Rosselinis Episode aus "RoGoPaG" (1963) oder Verhoevens "De vierde Man" (1983)), dann wären Greenaways Filme (und "The Pillow Book" ganz besonders) mit die letzten, die sich dafür eignen würden.[22] Auch hier steht Greenaway eher auf der Seite Nagikos (und der Mode und der gezeichneten Körper) und setzt voll und ganz auf eine auszuschmückende, abgegrenzte Fläche, und nicht auf der Seite der sich über alles mögliche erstreckenden Graffitis, dem sich im Bereich des Films eher der Underground und das Happening annähern. Mit dieser Haltung kann er der Formatgebundenheit des Films freilich nicht entfliehen.
Hier erweist er sich den eingefahrenen Formvorgaben des Mediums Film verhafteter, als die meisten seiner Kollegen es tun. Genau betrachtet stecken sogar noch mehr höchst konventionelle filmische Elemente in Greenaways Film, der für einige auf den ersten Blick eher penetrant unkonventionell wirken dürfte - etwa der Einsatz von Farbe und (viragierten) s/w-Bildern: die s/w-Bilder sind den Rückblenden des Films vorbehalten - bis zum Ende zumindest, wo ab der Geburt von Nagikos Kind die Gegenwart s/w und die Rückblenden in die Kindheit farbig sind. Während andere Regisseure (etwa David Lynch, den Greenaway neben Cronenberg mal als einen seiner zwei ernstzunehmenden Konkurrenten bezeichnet hat) die visuelle Kennzeichnung von Rückblenden, Traumsequenzen etc. bereits hinter sich gelassen haben, greift Greenaway hier auf typische Mittel des klassischen Erzählkinos zurück und verstärkt sie dabei sogar ein wenig. Auch sein Split-Screen Einsatz ist davon nicht ganz frei: manchmal freilich dient dieser bloß dazu, zwei Perspektiven eines Ereignisses festzuhalten (ästhetisch reizvoll, für die Erzählung aber unbedeutend), manchmal aber visualisiert er Erinnerungsbilder, die einzig und allein über den Spli-Screen Einsatz präsentiert werden. Und was die viragierten s/w-Bilder betrifft, geht Greenaway gar auf Techniken des Stummfilms zurück und präsentiert die dramatischeren Szenen (und den großen Brand) in Rot-Orange-Tönen, während er ansonsten auf Blautöne zurückgreift.

Formal ist "The Pillow Book" reizvoll, das Werk eines perfektionistischen Ästheten, handwerklich perfekt erarbeitet (ein vorletztes Mal steht der einstige Stamm-Kameramann von Resnais und seit 1985 feste Greenaway-Kameramann Sacha Vierny für diesen hinter der Kamera), mit einem abwechslungsreichen Soundtrack ausgestattet.
Inhaltlich steht das erotische (und wie von Greenaway gewohnt nicht allzu emotionale, dafür tendenziell groteske, absurde und anspielungsreiche) Liebes- und Emanzipationsdrama auch bestens da: Baudrillard-Kommentar, Postmoderne-Thematisierung und gleichzeitige Behandlung verschiedener Formen der Kommunikation (per Sprache und per Zusammensein), Kommentar zur Frau in einer Männergesellschaft... auf irgendeine Weise wird der Zuschauer hier sicherlich fündig; erotisch, witzig, schön und intelligent - ein typischer Greenaway, mit dem er das formale Bindeglied zwischen "Prospero's Books" und der "Tulse Luper"-Trilogie (2003/2004) abgeliefert hat.
8/10


1.) Kiefer: Prosperos Bücher. In Andreas Friedrich (Hg.): Filmgenres. Fantasy- und Märchenfilm (Reclam 2003, S. 182-184).
2.) Die Laufzeitangaben beziehen sich auf die Galileo Medien DVD.
3.) Der bei den Geburtstagsritualen von ihrem Vater gesprochene Text stellt bereits die Geburt eines Menschen mit der eines Textes gleich und verweist darüber hinaus auch noch auf den prägenden Aspekt, den die Einschreibung von etwas eigenem in einen anderen enthält: "Als Gott das erste Lehmmodell eines Menschen schuf, da malte er die Augen darauf, die Lippen und das Geschlecht. Dann malte er den Namen jedes Menschen darauf, damit ihn sein Besitzer niemals vergessen sollte. Wenn Gott seine Schöpfung gefiel, erweckte er das bemalte Lehmmodell zum Leben indem er seinen Namen darauf schrieb." (00:09:45)
4.) Und man sollte das Emanzipationsdrama nicht allzusehr vom konkreten Einzelschicksal auf eine allgemeingültige Aussage zu Männlichkeit, Weiblichkeit, Schöpfertum und womöglich noch japanische Kultur auszudehnen: die Gestalt des Verlegers, der weder künstlerisch produktiv ist, noch (in der Zeit nach der Geburt seines längst erwachsenen Sohnes) Leben über seine homosexuellen Beziehungen in die Welt setzt, wäre etwa ein Punkt, der einem sonst Kopfzerbrechen bereiten könnte. (Greenaways Hang, inszenierte Zufälle als sinnlose Verweise zu verwenden, erlaubt es, darin eine greenawaytypische Doppelcodierung zu sehen, die letztlich als rein zufällig und keinesfalls aussagekräftig wahrgenommen werden kann. Irritierend bleibt der Charakter damit aber dennoch - wie alle "Zufälle" bei Greenaway - weil gerade die unfruchtbare sexuelle Beziehung Homosexueller ein Vorwurf ist, der von Homophoben immer wieder gerne gemacht wird. Allerdings hat Greenaway schon in anderen Filmen bewiesen, dass er der homosexuellen Beziehung aufgeschlossen gegenübersteht: in "Z00 - A Zed and Two Noughts" und "8 1/2 Women" (1999).)
5.) "Nehmen wir z. B. die bildende Kunst, so ist die Anschauung des Menschen, der seine Notdurft verrichtet oder der sich erbricht, gewiß ekelhaft. Dennoch haben Maler sich nicht gescheut, solche Züge bei großen Gastereien mit aufzuführen. Es ist einmal der Lauf der Welt, daß die Leute, wenn es ihnen prächtig schmeckt, sich auch wohl übernehmen. Zur Vollständigkeit der Schilderung hat der Künstler diesen Moment nicht fortlassen wollen, allein er hat es durch die Art seiner Darstellung ästhetisch gemildert." (Rosenkranz: Ästhetik des Häßlichen. Reclam 2007, S. 49).
Der bei Rosenkranz angesprochenen Milderung entspricht bei Greenaway etwa der pissende Knabe Ariel in "Prospero's Books", der wie der kleine pissende Junge aus Rosenkranz Beispiel in "kindlicher Unschuld", "lächelnd" und mit "niedlichen Waden und Lenden" (ÄdH, S. 49)  gezeigt wird; oder die Aufnahmen der Scheiße in "Prospero's Books" und "The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover", der entweder wenig Raum in der mise-en-image einnimmt oder aber nur als sehr kurze Großaufnahme präsentiert und danach wieder von anderen Bildern verdrängt wird, entsprechend dem Erbrechenden aus Rosenkranz Beispiel, der "in den Hintergrund gestellt" (ÄdH, S. 49) wurde.
6.) Was nicht heißen soll, dass Bilder nicht auch erzählen und Texte nicht auch Zustandsbeschreibungen sein können. Ersteres macht Greenaway in "The Draughtsman's Contract" und "Nightwatching" (2007) auch unmissverständlich klar, sagt allerdings in Interviews auch immer wieder mal, dass derjenige, der Geschichten erzählen wolle, Bücher schreiben und nicht Filme drehen solle. (Eine dieser Äußerungen ist im Booklet der dt. DVD des Films von Galileo Medien enthalten.)
7.) Jörg Helbig schreibt zwar in "Geschichte des britischen Films" (J.B. Metzler 1999), dass "der dezidiert unerotische Einsatz von Nacktheit in Greenaways Filmen [...] die Motion Picture Association of America zur Einführung einer neuen Bewertungskategorie [veranlasste], um die künstlerisch legitimierte Darstellung nackter Körper gegen pornographische Werke abzugrenzen." (S. 288) Das jedoch entspricht nicht ganz den Tatsachen: richtig daran ist (neben dem Fakt der Bewertungskategorie) sicherlich, dass Greenaways Darstellung nicht pornographisch ist - doch das macht sie nicht auch zugleich unerotisch. Es gibt freilich unerotische Nacktheit bei Greenaway (etwa in "Prospero's Books", dem ausschlaggebenden Grund für diese neue Bewertungskategorie, der die Nacktheit der Leiber als unschuldige, natürliche Nacktheit präsentiert), aber sowohl "The Draughtsman's Contract", "Drowning by Numbers", "The Cook, the Thief, His Wife and Her Lover", "The Baby of Mâcon" und "8 1/2 Women" arbeiten mit Verführungsszenen und Fetischen, eben durchaus mit erotischen Szenen, denen jedoch die Emotionalität einer Romanze meist abgeht, welche man bei entsprechenden Erotikszenen gewohnt ist.
8.) Im Film werden sie in einer aussagekräftigen Szene von Nagiko folgendermaßen umschrieben: "Seine Schriften - in so vielen Sprachen - machten mich zu einem Wegweiser, der nach Osten zeigt, nach Westen, Norden und Süden. Ich hatte Schuhe in Deutsch, Strümpfe in Französisch, Handschuhe in Hebräisch, einen Hut mit Schleier in Italienisch. Nackt ließ er mich nur dort, wo ich es sonst gewohnt war, Kleidung zu tragen." (00:56:24) Der Monolog beginnt mit der Einstellung, in der Nagiko über den Brüsten bis zum Scheitel beschrieben ist, und endet mit der Aufnahme der bemalten Rückseite Jeromes mit dem unbeschriebenen Hintern.
9.) Baudrillard: Der symbolische Tausch und der Tod (Matthes & Seitz 1982, S. 158/159).
10.) Das Verhältnis zu der Bande, die beide beim Liebesspiel stört, ist freilich deutlich negativer - allerdings wird nie gänzlich klar, ob es sich bei diesen ebenfalls um Sprayer handelt. Dass eine von ihnen mit Sprühdosen einen Innenraum besprüht - sowohl über die nackte Wand, als auch über Fotos hinweg - mag dafürsprechen, dass sie Nagikos Partner als "den Graffitischreiber" bezeichnen, spricht eher dagegen (welcher Graffiti-Schreiber würde einen anderen Graffiti-Schreiber vor anderen Graffiti-Schreibern schon als den Graffiti-Schreiber bezeichnen, der er ist - eine Bezeichnung, die in diesem Moment eigentlich nichts bedeutet).
11.) "SUPERBEE SPIX COLA 139 KOOL GUY CRAZY CROSS 136 - das bedeutet nichts, das ist noch nicht einmal ein Eigenname, sondern eine symbolische Matrikel, die dazu da ist, das gewöhnliche Benennungssystem durcheinander zu bringen. Diese Terme [...] kommen alle aus dem Comic Strip, wo sie in Fiktion eingeschlossen waren, aber sie brechen explosiv daraus hervor, um wie ein Schrei, ein Ausruf in die Realität geschleudert zu werden, als Anti-Diskurs, als Absage an jede syntaktische, poetische, politische Elaboration, als kleinstes radikales Element, das durch keinerlei organisierten Diskurs mehr zu vereinnahmen ist. Irreduzibel auf Grund ihrer Armut selbst, widerstehen sie jeder Interpretation, jeder Konnotation, und sie denotieren nichts und niemanden mehr: weder Denotation noch Konnotation, so entgehen sie dem Prinzip der Bezeichnung und brechen als leere Signifikanten in die Sphäre der städtischen, erfüllten Zeichen ein, die sie durch ihre bloße Präsenz auflösen." (ST, S. 123).
12.) "Die Graffiti [...] sind kein Heilmittel für die Architektur, sie beschmutzen sie, vergessen sie, gehen über sie hinweg. [...]Das Grafitti läuft von einem Haus zum anderen, von der Wand eines Gebäudes zur nächsten, von der Wand über das Fenster oder über die Tür oder über die Scheiben der U-Bahn, über den Fußweg, es steht krumm und schief, es ist hingesudelt, es überlagert sich [...]. Indem sie die Wände tätowieren, befreien SUPERSEX und SUPERKOOL sie von der Architektur und machen sie wieder zur lebendigen, immer noch sozialen Materie, zum beweglichen Körper der Stadt vor seiner funktionalen und institutionellen Markierung." (ST, S. 128).
13.) ST, S. 123.
14.) "Die Mode ist [...] keine Komplizin, sondern eine Konkurrentin des Sex, die ihn besiegt [...]. Deshalb überzieht die Modeleidenschaft den mit dem Sex verbundenen Körper mit ihrer ganzen Ambiguität. [] Die Mode wird zu einem immer bedeutenderen Phänomen, indem sie zur Inszenierung des Körpers wird. Der Körper wird zum Medium der Mode. [...] Dem Modezeichen überlassen, wird der Körper sexuell entzaubert, er wird Mannequin - ein Wort, dessen Geschlechtslosigkeit sehr gut ausdrückt, was es bedeutet. Das Mannequin insgesamt ist Sex/Geschlecht, aber Sex/Geschlecht ohne Eigenschaften. Die Mode ist sein Geschlecht." (ST, S. 146-149).
15.) ST, S. 151.
16.) ST, S. 8.
17.) ST, S. 17.
18.) ST, S. 140.
19.) ST, S. 79.
20.) ST, S. 89.
21.) Am deutlichsten wird dies, wenn sie Jerome beim ersten Treffen als Schmierfink beschimpft, nachdem dieser nicht gerade in Schönschrift ihren Körper beschrieben hat.
22.) Es gibt eine Szene, in der es den Anschein haben könnte, dass Jerome und Nagiko die Kalligraphie nicht mehr an den Körper gebunden sehen: nämlich dann, wenn Jerome Buchstaben auf ihren Körper oberhalb der Brüste projiziert und dann abmalt. Doch im Gegensatz zu den Graffiti werden die Buchstaben hier nicht neben dem Körper fortgesetzt, der Text endet unvollendet mit dem Körper, was bloß noch mehr den Bild-Charakter der Buchstaben betont und sich (wie erwähnt) darüber hinaus als Mittel der Fetischisierung erweist.

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