LA BELLE PERSONNE hat mich wie kein anderer Film an den literarischen Stil von Raymond Radiguet und Jean Cocteau erinnert. Statt jedoch eine Verfilmung eines Textes der beiden zu sein, handelt es sich vielmehr um eine sehr freie Adaption des 1680 erschienen Romans La Princesse des Clèves von Marie-Madeleine de La Fayette, der unter anderem schon Andrzej Zulawski zu seinem wohl leider letzten Film LA FIDÉLITÉ inspirierte. Dass beide Regisseure mit dem Stoff arbeiteten und ihn nicht akribisch für die Leinwand zurechtschnitten, zeigt sich schon daran, dass LA BELLE PERSONNE und LA FIDÉLITÉ bis auf einige wenige Details kaum etwas gemeinsam haben.
Wie Zulawski siedelt Christophe Honoré seine Handlung im modernen Frankreich an und wählt als Setting eine renommierte französische Schule irgendwo in Paris. LA BELLE PERSONNE ist ein Liebesfilm im wahrsten Sinne des Wortes. In seinem Zentrum steht ein anfangs schier undurchschaubares Gewebe aus miteinander vernetzten und ineinander verstrickten Emotionen, die sich zueinander bekennen, sich voreinander verstecken oder leugnen, dass ihre Fäden aufeinander zulaufen. Im Mittelpunkt der Handlung steht die 16jährige Junie, die nach dem Tod ihrer Mutter die Schule wechselt und bei ihrem Cousin unterkommt, der sie mit der Clique seiner Freunde bekannt macht, die Junie freundlich aufnehmen, vor allem die Jungen, die sich schon bald freundschaftlich darum zu streiten beginnen, wer von ihnen sich denn einen Platz in dem Herz des schüchternen, stillen Mädchens erobern wird. Junie wählt den Kandidaten, der nach seiner eigenen Meinung und der der andern die schlechtesten Chancen hat, nämlich Otto, mit dem sie eine Beziehung anfängt in der sie innerhalb von Minuten von leidenschaftlichen Küssen zu einem kühlen, abweisenden Verhalten wechselt. Doch nicht nur ihre Mitschüler haben ein Auge auf Junie geworfen. Monsieur Nemours, ihr Italienischlehrer, spürt von ihrer ersten Begegnung an, dass etwas mit ihm nicht stimmt. Seine Knie sind weich, wenn er ihr gegenübersteht, er fühlt eine tiefe Liebe, die er schon lange nicht mehr empfunden hat. Ohne dass er von Junie zunächst einen Hinweis darauf erhält, dass sie seine Gefühle erwidert oder zumindest bemerkt, beendet er zwei Beziehungen, die er zurzeit parallel führt, eine Affäre mit einer Lehrerkollegin und eine mit einer Schülerin, die zu der Clique um Otto und Junie gehört. Junie indes hat Nemours längst durchschaut und auch sich selbst, denn er ist ihr alles andere als gleichgültig…
Was sich anhört, wie eine relativ konventionelle Teenagerromanze, ist in Wirklichkeit poetisches Kino par excellence. Um diese Zentralproblematik sind unzählige weitere Konflikte gruppiert, die der Film wie ein Schicksalsrad in Bewegung hält. So ziemlich jede der vielen Figuren des Films wird im Laufe der Geschichte verletzt und enttäuscht oder verletzt und enttäuscht selbst. Genauso fremd wie den Schülern die Sprachen sind, die sie lernen müssen (Italienisch und Russisch) sind ihnen ihre eigenen Gefühle. Rein instinktiv wissen sie, was ihnen am meisten bedeutet, doch dazu wiederum können sie nicht stehen. Die zweitgrößte Macht in LA BELLE PERSONNE neben der Liebe ist nämlich die Furcht, die jedem der Charaktere im Nacken sitzt, vor allem die Furcht zu verletzen oder zu verlieren. Andauernd stellen die Personen, die Christophe Honoré vorführt, unter Beweis, dass ihre Liebe niemals zeitlos ist. Immer wieder stürzt die Realität über sie herein und zerstört alle Illusionen. Junie hat genau davor am meisten Angst. Sie bleibt lieber bei Otto, der ihr viel bedeutet, den sie jedoch nicht liebt, weil sie bei ihm, der sie im Gegenzug bedingungslos vergöttert, sicher sein kann, dass er sie nie verlässt und nie fallen lässt, etwas, das bei Nemours, der sich bisher durch etliche Affären einen Namen machte, nicht unbedingt gewährleistet scheint. Es ist schlicht genial wie Honoré die Biographien von zehn bis fünfzehn unterschiedlichen Personen miteinander verknüpft und zu gegenseitigen Spiegelbildern werden lässt. In der Mitte von LA BELLE PERSONNE stehen ein paar essentielle Gefühle und sämtliche Figuren, die auftauchen, sind, so scheint es, Ausdrücke oder Möglichkeiten, mit diesen Gefühlen umzugehen, verschiedene Formen und Interpretationen der einen Sache, auf die es ankommt.
LA BELLE PERSONNE ist dabei ein stiller Film, in seinen besten Momenten so emotional, dass man es kaum aushält, wozu er sich der einfachsten Mittel bedient. Eins davon wäre der Soundtrack. Die melancholischen Songs von Nick Drake untermalen nicht nur beliebig einzelne Szenen, sondern werden ebenso effektvoll eingesetzt wie Stücke von Bach oder Alain Barrière. Auch singt einer der Schauspieler, im Stil eines traurigen Musikvideos, einen eigens für den Film komponierten Song von Alex Beaupain. Und in einem der ergreifendsten Momente des Films sitzt die Klasse im Italienischunterricht, während einer von ihnen ein Referat über eine Oper von Donizetti hält. Als Hörprobe gibt es ein Stück aus der Oper, gesungen in einer legendären Callas-Aufnahme. Jeder der Schüler scheint sprachlos zu sein von einem Schock, den er durch die Kunst erlebt. Und während Nemours an seiner Liebe auf den ersten Blick gegenüber Junie zu nagen hat, stürzt diese plötzlich tränenüberströmt aus dem Raum.
LA BELLE PERSONNE ist vor allem auch ein Schauspielerfilm. Schon lange habe ich keinen derart überzeugenden Cast mehr gesehen. Selbst die kleinste Nebenrolle ist perfekt besetzt und so ziemlich jeder Charakter strahlt eine gewisse Anmut aus, bei manchen verzweifelt, bei anderen arrogant, bei dem nächsten wiederum so, als ob er sich seiner Anmut gar nicht bewusst sei. Allen voran brillieren natürlich Louis Garrel als von seinen Gefühlen gequält werdender Nemours und Léa Seydoux als Junie. Für mich ist LA BELLE PERSONNE definitiv ein Meisterwerk, ein Film, den ich mir problemlos als vergessenes Werk von Raymond Radiguet vorstellen kann, geschrieben in einem poetisch-verschlüsselten Stil, der klarer nicht sein könnte.