Ein skurriles Bild, so wie der Junge auf dem Fahrrad den zerbröselnden Asphalt eines Autobahnabschnitts entlangfährt. Gesäumt wird er von massiven Leitplanken, die nie ein Auto zu Gesicht bekommen haben. So ein wenig fühlt man sich an die dystopische Stadt- und Straßenkulisse eines Films wie „I am Legend“ erinnert, nur dass diese Straße ihre Bestimmung noch nicht verloren hat.
Noch lebt an ihr in einem kleinen Haus eine Familie in einer naiven, fast schon anarchistisch anmutenden Idylle ohne Verkehr, ohne Lärm, ja fast schon ohne zivilisatorische Anknüpfungspunkte. Der Vater (Olivier Gourmet) fährt tagtäglich mit seinem Auto durch ein Feld zur Arbeit – ein Teil der Autobahn bietet sich dabei als Parkplatz an –, während die Mutter (Isabelle Huppert) als Hausfrau ihren Pflichten im Kreis der Familie nachkommt. Zwei der Kinder, eine etwas öffentlichkeitsscheue, aber hoch gebildete Tochter (Madeleine Budd) und der Jüngste (Kacey Mottet Klein) gehen zur Schule, während die dritte, unangepasste Tochter (Adélaïde Leroux) den Tag mit einem Sonnenbad im improvisierten Garten an sich vorrübergehen lässt. Dabei beschallt sie die menschenleere Gegend mit Heavy Metal-Gegröle. Dieser auf den ersten Blick familiäre Frieden gerät ins Wanken, als eines Tages Straßenbaufahrzeuge auftauchen und die Autobahn über Nacht wieder befahrbar machen. Bald rollt schon das erste Auto, dem noch Tausende folgen werden und das kleine, wohnliche Paradies muss nach und nach der grauen Realität weichen, der sich aber nicht alle in der Familie beugen wollen.
Der französisch stämmigen und in der Schweiz aufgewachsenen Regisseuren Ursula Meier glückte mit ihrem Debüt-Kinofilm „Home“ ein kleines (Fast-)Meisterwerk. Mit einem ausgezeichneten Blick und Gefühl für die Details, die diese Familie zu Beginn so harmonisch und intakt aussehen lassen, inszeniert sie einen Film, der von Anfang bis Ende Stringenz besitzt. Doch je mehr sie die einzelnen Familienmitglieder in sich, aber auch gegeneinander sensibel austariert, umso mehr steigert sich das Unbehagen im Zuschauer zum Ende hin, als er Zeuge des Verfalls dieses familiären Kunstwerkes wird.
Der Film beginnt als Komödie, ja sogar als Possenspiel über die genussvoll gelebte Entbehrung in der Einöde der französischen Provinz. Das unbefahrene Autobahnteilstück steht wie ein Relikt der Urbanisierung in dieser Landschaft. Familie Robinson hat ihr Paradies gefunden und will sich aus ihm nicht vertreiben verlassen. Über die Herkunft der Familie erfährt der Zuschauer nichts. Die Biografie eines Jeden bleibt im Dunkeln und wird von der Regisseurin nicht erwähnt, was merkwürdigerweise auch nicht ins Gewicht fällt; sosehr genießt man das Leben der Fünf im Hier und Jetzt. Dieser Genuss verbittert sich im Verlauf des Films zunehmend, was „Home“ zu einer Tragikomödie, wenn nicht sogar zu einem eiskalten Drama werden lässt. Wie eine nie nachlassende Brandung schlägt das Dröhnen des Verkehrs (wie die Tochter berechnete: etwa 5000 Autos am Tag) gegen das Haus, was die Einwohner dazu nötigt, sich einzumauern. Und je mehr sich die Familie nach Außen abschottet, umso mehr bekommt sie nach Innen Risse. Dieser filmische Wandel von der Komödie zum Drama funktioniert so gut, dass einem nach dem Verlassen des Kinosaals das Gefühlt beschleicht, man hätte zwei verschieden Filme gesehen, die jedoch aus einer Quelle entsprangen.
„Home“ ist ein kurzweiliger Film, der die Lachmuskeln reizt, um einem kurz darauf das Lachen im Halse stecken zu lassen. Die Figuren sind stilsicher gezeichnet und legen eine beeindruckende und beängstigende Wandlung an den Tag. Unabhängig von der souverän agierenden Isabelle Huppert sticht vor allem der junge Schweizer Kacey Mottet Klein ins Auge, der kindlich, naive Freude genauso wie packende, psychotische Angst spielen kann.