Review
von Alex Kiensch
Marthe (Isabelle Huppert) und Michel (Olivier Gourmet) leben mit ihren drei Kindern in einem Haus mitten an einer nie fertig gestellten Autobahn. Sie genießen die Einsamkeit und Abgeschiedenheit ihres Zuhauses und benutzen die Fahrbahn als Spielplatz oder gemeinsamer Treffpunkt. Doch eines Tages rücken Bauarbeiter an: Die Autobahn wird doch noch vollendet und eingeweiht. Anfangs nimmt es die Familie mit Humor und versucht sich daran zu gewöhnen, dass direkt vor ihren Fenstern tausende Autos vorüber rasen. Doch mit der Zeit wird die Situation zunehmend belastender.
Die skurrile Geschichte um eine außergewöhnliche Familie mit außergewöhnlichem Wohnort meistert mit viel Fingerspitzengefühl die Gratwanderung zwischen lockerer Komödie und bedrückendem Psychogramm. Einhergehend mit dem Wandel des Zuhauses von einem idyllischen Ort des Beisammenseins zu einem nicht enden wollenden Albtraum, verdüstert sich auch die Stimmung des Films immer mehr. Die sonnigen, bunten Bilder des Anfangs werden zunehmend ersetzt durch graue, triste Farbdramaturgie - so untermalt schon die formale Inszenierung die Veränderung, die das Haus und seine Bewohner mitmachen müssen.
Getragen wird dieses vielschichtige Charakterporträt von den herausragenden Darstellern. Nicht nur die französischen Starschauspieler Huppert und Gourmet liefern eine nuancenreiche und vollauf überzeugende Leistung ab, auch die jungen Darsteller bringen ihre Figuren mit ungeheuer intensiver und natürlicher Glaubhaftigkeit. Vom aufgeschlossenen, lebensfrohen Jungen, den die bedrückende Situation zunehmend traumatisiert, über die pubertierende Tochter, die sich von einer intelligenten Musterschülerin zur paranoiden Hypochonderin wandelt, bis zur volljährigen Tochter, die selbst angesichts einer voll befahrenen Autobahn nicht auf ihr tägliches Sonnenbad im Bikini verzichten will, stellen die drei die Mitglieder einer Familie dar, deren Zusammenhalt mit wachsendem psychischen Druck immer mehr auseinander fällt.
Diese Zerstörung des Familienverbunds wird detailliert und absolut überzeugend aufgezeigt. Schon von Anfang an sind kleine Risse und Reibungen im Umgang der fünf Mitglieder untereinander spürbar. Diese Reibungen eskalieren durch die psychische Belastung der Autobahn immer mehr, bis sowohl Eltern als auch Kinder extreme psychotische Symptome zeigen. Diese kleinschrittige Entwicklung manifestiert sich anfangs in kleinen Szenen und Gesten und wächst bis zum bizarr-bedrohlichen Finale ins Unermessliche und sogar Gewalttätige. Eine so dichte und glaubwürdige Psycho-Studie sieht man nicht alle Tage im Kino.
Trotz kleiner Klischees und unrealistischer Szenen (wenn etwa die Mutter quer über die stark befahrene Autobahn eine Essenstüte zu ihren Kindern wirft) überzeugt "Home" somit als psychologisch vielschichtige, stark gespielte Tragikomödie, deren anfänglicher komödiantischer Ton sich in eine beißende Satire auf spießbürgerliche Lebenseinstellungen und schließlich zur bizarren Groteske wandelt. Unterhaltung mit Biss und Köpfchen.