Die feine englische Gesellschaft trifft sich in einem prächtigen Landhaus zur Fasanenjagd. Eines Abends wird der unsympathische Hausherr mit einem Messer in der Brust aufgefunden und natürlich haben alle Anwesenden ein Motiv. Fehlt nur noch Hercule Poirot, der, während er wiederholt auf seine belgische, nicht französische, Herkunft hinweist, den Fall löst und den Mörder vor versammelter Mannschaft in einem zehnminütigen Monolog entlarvt.
Hieße die Autorin des Drehbuchs Agatha Christie, so könnte man durchaus davon ausgehen, dass Gosford Park unweigerlich so hätte enden müssen. Stattdessen zeichnete Upper Class-Experte Julian Fellowes dafür verantwortlich und herausgekommen ist ein Ensemblestück über die Gesellschaft im England der 30er Jahre. Das klingt nach einer recht drögen Affäre, entpupt sich jedoch in den Händen von Regiealtmeister Robert Altman als amüsant satirischer Blick auf das untrennbar ineinander verzahnte Leben der nicht mehr ganz so reichen Herrschaften und ihrer Diener.
Sir William McCordle (in unausstehlicher Bestform: Michael Gambon) hat zu einem Wochenende auf sein Landhaus geladen und die ganze gierige Verwandtschaft kommt. Jeder will Geld vom neureichen William und nett wie der Herr ist, lässt er sie alle im Regen stehen. Kein Wunder also, dass nicht wenige seinen Tod herbeisehnen. Kaum jemand bedauert dann sein verfrühtes Ableben. Dafür geht sofort das Rätselraten los: Wer hat's getan? Das fragt sich auch Inspektor Thompson (Stephen Fry), der spät im Film eintrifft, um den Mord aufzuklären.
Er wolle mit den wichtigen Leuten sprechen, mit denen, die Kontakt zum Toten gehabt hatten, sagt Thompson einmal und meint damit die adligen Gäste. Was weiß schon ein Hausmädchen über seine Herrschaften?
Mehr daneben könnte der Inspektor natürlich nicht liegen, das ist von der ersten Minute klar in Gosford Park. Kaum ein Gespräch, kaum eine Einstellung vergeht, ohne dass wir nicht mindestens einen Diener sehen, der unbewegt im Bildhintergrund steht, als würde er nicht existieren, während die Upper Class-Exponenten ihre Intrigen und Psychospielchen austragen.
Jahrhundertealte Verhaltensschemata laufen hier ab, die von Herrengeneration zu Herrengeneration, von Dienergeneration zu Dienergeneration gewandert sind, sich dabei kaum der Moderne angepasst haben. Dennoch liegt die Veränderung, liegt der Wandel in der Luft.
Diese Gesellschaftskonstellation hat sich überlebt, das erkennen die Besucher aus Hollywood, Kinostar Ivor Novello (Jeremy Northam), Produzent Moris Weissman und dessen vermeintlicher Diener Henry Denton (Ryan Phillippe). Ihre Außenseiterposition nimmt sie nicht vom ironischen Blick der Erzählung aus. Ob nun Weissman ständig versucht eine Leitung nach Hollywood zu bekommen, völlig blind gegenüber dem Fakt, dass nebenan eine Leiche gefunden wurde, oder Denton wirklich jede Frau angräbt, der er über den Weg läuft. Reiche Amerikaner sind vielleicht die Zukunft, aber das schließt ihre Lächerlichkeit nicht aus.
Es ist kein Zufall, dass es ausgerechnet ein neureicher Fabrikbesitzer ist, der seine in Geldnöten steckende Verwandtschaft auf sein Landhaus einlädt. Die althergebrachten Rituale werden noch zelebriert, doch der klassische Landadel steckt in der Krise, wird innerhalb der nächsten Jahrzehnte seine Besitzungen verkaufen oder dem Verfall preisgeben, bis irgendein Hollywoodstar oder Madonna kommt, um eine der protzigen Villen zu kaufen.
James Ivory erzählte in The Remains of the Day (1993) vom Niedergang dieser Schicht noch im Rahmen politischer Verwicklungen. Der Appeasementpolitiker Lord Darlington stand da noch dem weitsichtigen amerikanischen Kongressabgeordneten Lewis gegenüber.
Robert Altmans leichtfüßige Inszenierung setzt auf die Populärkultur. Ivor Novello, einer der berühmtesten Stars seiner Zeit, trällert seine Lieder in der wichtigsten Sequenz des Films am Klavier. Die adligen Herrschaften können ihre Langeweile kaum verbergen und lassen mehrmals im Film abfällige Bemerkungen zum Kino an sich fallen, als handle es sich um keine angesehene Kunst, sondern eben nur um Unterhaltung für die Massen. Zu diesen Massen gehören auch die Diener, Butler, Hausmädchen, die heimlich dem Gesang Novellos lauschen, als habe Gott das Haus betreten. Währenddessen geschieht der Mord.
Mag eine kurze Inhaltsangabe des Films ein Whodunit erwarten lassen, so ist das kein Zufall. Auf das Krimigenre, welches seinen literarischen Höhepunkt in den 20er und 30er Jahren erlebte, spielt Gosford Park mit einigem Vergnügen selbst an. Produzent Weissman ist dabei, einen neuen Charlie Chan-Film zu drehen, der in einem englischen Landhaus spielt (!). Das Muster einer reichen Jagd/Reisegesellschaft, deren Mitglieder alle ein Motiv haben, die sich an einem Schauplatz trifft, der von der Außenwelt abgeschieden ist und eines exzentrischen Inspektors, der das Verbrechen aufzuklären hat, ist klassisches Whodunit-Material. Agatha Christie hat diese Elemente in Murder on the Orient Express selbst ad absurdum geführt.
Fellowes und Altman haben ein Genre genommen, dass in seinem Wesen, in seinen unterhaltsamsten Variationen, typisch britisch ist. Wo sonst soll man eine dermaßen versnobte Gesellschaftsschicht finden, als im England der 30er Jahre? Der meist in diesem Zeitraum angesiedelte Whodunit-Krimi, ein Inbegriff der britischen Populärkultur, ist in Gosford Park der Rahmen, mit dem frei gespielt wird.
Der Mord, der eigentlich am Anfang stattfinden sollte, lässt mehr als eine Stunde auf sich warten. Die Zeit nutzt der Film, um uns mit einer komplizierten Choreographie der Figurenbewegung und Gesprächsfetzen in diese Welt der Diener und Herren einzuführen. Mehr als Fetzen der Dialoge kriegen wir nur selten zu hören. Altman-typisch überlappen sie sich, verschwimmen sie. Die Kamera schwenkt mal hier hin, mal dort hin, Figuren verlassen den Raum, andere betreten ihn, ziehen einen neuen Erzählstrang mit ins Bild. Alles ist in Bewegung, oftmals sagen dann doch die Blicke mehr als die Worte über die Beziehungen von Dienern und Herren. Soviel entscheidendes läuft gelegentlich im Bildhintergrund ab, dass erst weitere Sichtungen des Films seine ganze spannende Dichte offenbaren.
Gosford Park erinnert in seiner Machart deswegen an ein anderes großes Landhausballett der Filmgeschichte, Jean Renoir's La régle du jeu (1939). Hier ist es der englische Adel, dort die französische Bourgeoisie, deren Lebenswandel auf dem Prüfstand steht. Gosford Park verlagert den Blickwinkel sehr viel stärker auf die Bediensteten. So ist es am Ende auch eine Bedienstete - sozusagen unsere Hauptfigur - die die einzigen relevanten „Untersuchungen" im Mordfall anstrengt.
Der Inspektor ist nämlich völlig inkompetent. Stephen Fry legt seinen Thompson als Hommage an Peter Sellers' Jacques Clouseau an. Man erwartet geradezu, dass er gegen eine Tür rennt oder sich in einem Billardqueue verfängt. Auf Slapstick verzichtet Fry, doch wirkt die auffällige Komik zumindest am Anfang etwas deplaziert in diesem Film.
Gosford Park ist keine leichte Kost und kann beim Zuschauer schnell das Prädikat „langweilig" auf sich ziehen. Wer weiß, was auf ihn zu kommt und die nötige Aufmerksamkeit mitbringt, erlebt ein unterhaltsames sozialkritisches Sittengemälde, getragen von einer hervorragenden Besetzung und einer Inszenierung, die ihre Größe erst beim mehrmaligen Schauen entfaltet. Wer glaubt, die Harry Potter-Filme oder Love Actually würden den Höhepunkt britischer Staransammlung darstellen, sollte sich Robert Altmans Film ansehen. Ob Helen Mirren, Clive Owen oder die herrlich versnobte Maggie Smith. In dem Jahr muss Vollbeschäftigung unter den Schauspielern auf der Insel geherrscht haben.
Lady Sylvia McCordle: Oh, don't worry about him. He's just an American staying with us.