Review

Ein Mann auf der Suche nach seiner Vergangenheit, nach der verlorenen Zeit.
Das ist die Essenz aus Sergio Leones Epos „Es war einmal in Amerika...“, einem der wohl melancholischsten, authentischsten und epochalsten Gangsterfilme, die je gedreht worden sind. Leones Beinahe-Vier-Stunden-Werk ist trotz seiner vielen ruhigen und traurig-stillen Phasen ein monumentales Filmerlebnis, dass in Plotkonstruktion und Figurenzeichnung Meisterschaft erwirbt.

Im Zentrum der Handlung steht ein Geschäftsbündnis von fünf Jugendlichen, die ein Mord und eine Gefängnisstrafe kurz vor 1920 auseinander reißt. 12 Jahre später kommt die Hauptfigur David, genannt Noodles in die Arme seiner Freunde zurück, die sich dank Prohibition, Schmuggel und Gewalt zu kleinen Bossen hochgearbeitet haben. Sie bleiben erfolgreich im Geschäft, doch der Ehrgeiz von Max treibt sie auf ein riskantes Unternehmen zu, das Noodles der Polizei verrät. Seine Freunde sterben, er muss aus der Stadt New York fliehen. 35 Jahre später kehrt Noodles auf eine seltsame Einladung hin nach New York zurück und beginnt, eine Vergangenheit aufzurollen, die doch ganz anders ist, als er immer geglaubt hat.

Diese Story, angesiedelt zwischen Mannwerdung und Untergang im Alter, wird derart effektiv verschachtelt präsentiert, dass man sich arg zusammenreißen muss, um nicht den Faden zu verlieren. Der Film geht von einer Vergeltungsaktion zahlreicher Killer aus und führt zu Noodles Flucht, würfelt aber hier zum ewig langen, schrillen Läuten eines Telefons die Erzählzeit durcheinander, denn der Telefonanruf ist der Knackpunkt in der Beziehung zwischen Noodles und Max. Noodles begeht Verrat, wie er glaubt und wird doch am Ende einsehen, dass er nur Figur in einem Spiel gewesen ist.
Die Herkunft der Killer, verkohlte Leichen auf einer regennassen Straße, de Niro in einer Opiumhöller, alles Bilder, der der Film erst in einen schlüssigen Kontext bringen muss.

Doch bevor er das tut, führt er seine Hauptfigur aus der Handlung hinaus und 35 Jahre später mit einem neuen Zeitsprung wieder hinein, um dann in der Erinnerung 50 Jahre zurückzugehen und mit dem Kennen lernen und den Jugendabenteuern zu beginnen.

Die Hauptmerkmale des Films die das des Verlustes, der Täuschung und der Erinnerungen.
Dabei bilden Noodles (de Niro) und Max (James Woods) gegensätzliche Pole. Max ist der ehrgeizige Aufsteiger, der ganz nach oben und gleichzeitig sauber werden will, über Leichen gehend, aktiv, Schranken überwindend. Dabei sind ihm notfalls auch Freunde kein Hindernis.
Noodles dagegen fühlt sich der Freundschaft und dem Bündnis der Jugend verpflichtet. Er ist kein Ehrgeizling, sondern bleibt immer der Mann von der Straße, der aus der Vergangenheit nicht loskommt. Seine Schwärmerei für die Tochter eines Restaurantbesitzers (Jennifer Connelly in ihrer ersten Rolle) bleibt auf ewig der Distanz geopfert. Ihr schauspielerischer Ehrgeiz führt sie in die Welt hinaus, die Noodles nicht betreten will, selbst gehemmt durch seine Herkunft und seine beschränkte Bildung.

Auf Max charaktergemäße Kampfansagen und Gefechtsaufforderungen reagiert Noodles mit stoischer Zurückhaltung, immer seinen Ehrenkodex im Kopf, nicht bemerkend, dass sich die alten Freunde auseinander leben.
Das betrifft auch sein Verhältnis zu der von ihm verehrten Deborah, die um 1930 zwar honorieren kann, dass er etwas aus sich gemacht hat, aber durchschaut, dass er inne ndrin derselbe geblieben ist. Zwangsläufig wandert sie in Richtung Hollywood ab, was Noodles zu einem verzweifelten Vergewaltigungsversuch provoziert, weil er seine Liebe nicht halten und nicht ausdrücken kann.

Das chronologisch letzte Drittel des Films, das etwa 1968 spielt, zeigt, dass Noodles sich nie verändert hat. Er ist einziger authentischer Charakter geblieben, ungeachtet der Tatsache, ob das nun gut oder schlecht ist.
Darüber erfahren wir auch nichts, denn Noodles Vergangenheit wird nur angedeutet, er scheint ein einsamer Mann zu sein. Doch wie sich langsam aber sicher herausschält, sind auch die anderen gescheitert, auf die eine oder andere Weise, doch das erfüllt Noodles nicht mit Genugtuung, denn mit jeder Enthüllung zerbricht das Fragment der Erinnerung mehr und mehr, wird der Verrat an Noodles immer kompletter.
Ohne erkennbare Bitternis oder andere Gefühle bleibt er jedoch der Stoiker und lässt die Menschen, an denen sein Leben einmal hing, zurück, in ihrer Schuld und Angst, schließt mit der Vergangenheit ab und bewahrt sich so zumindest noch die Erinnerungen an eine glücklichere Zeit, die in weiter Ferne liegt. Die letzte Einstellung sieht den erwachsenen Noodles im Opiumrausch nach seinem Verrat das erste (und vermutlich auch letzte) Mal glücklich lächelnd.

Dieses Opus in absoluter Tragik und Bitterkeit inszeniert Leone, als ginge es um sein Leben. Das Herzblut pulst wirklich durch jede Szene und alle Zeitebenen haben ihren ganz eigenen Reiz. Weil die Beziehung der Freunde dabei aber der treibende Motor ist, ist die Gangsterstory dabei lediglich das nötige Rüstzeug, aber nicht der Kern der Handlung, die wertneutral und niemals moralisierend wirkt.

Das ist wichtig, denn besonders lieb gewinnen kann man die Charaktere nicht, die sich in typischer Männerfreundschaft den Frauen mehr als Objekte widmen, als schmückendes Beiwerk oder Mittel zum Sex.
So ist der Film auch überraschend direkt in jeder Beziehung, ohne es visuell zu übertreiben. Neben der wirklich erschütternden versuchten Vergewaltigung, die beinahe körperlich schmerzt, gibt es noch eine weitere (aber vom Opfer wohl offenbar gewünschte) während eines Überfalls. Nicht gerade ein Frauenbild, das Feministinnen lieben werden, aber dem Genre entsprechend.
Auch in punkto Gewalt bleibt der Film roh und realistisch, inszeniert Erschießungen und Mordanschläge mit Wucht und Direktheit, immer mit dem nötigen Quäntchen Gnadenlosigkeit.

Viel stärker berührend bleibt jedoch die melancholische Grundstimmung, der Ennio Morricone mit dem wohl besten Score seit Jahren vertont, dass man sich einen Klumpen in der Magengrube kaum verkneifen kann, wohl allem, wenn gegen Ende (es ist die Endzeit für die Vergangenheitserinnerungen) es Schlag auf Schlag kommt.
Zwei Szenen sind dabei hinreißend gelungen: in der einen zu Beginn verlässt Noodles New York durch eine Bahnhofstür, auf der für Coney Island geworben wird, die Kamera blickt auf das Fenster in der Tür und plötzlich erscheint er dort wieder, 35 Jahre älter und tritt durch dieselbe Tür zurück, auf der Wand plötzlich ein großer Apfel (Big Apple), während passend dazu „Yesterday“ angestimmt wird.
Auch in der zweiten geht es um das Öffnen einer Tür, nämlich die der Künstlergarderobe seiner Angebeteten, die die schlimmste Wahrheit von allen für ihn bereithält, eine Gänsehautszene ziemlich am Ende.

Am Ende zieht der Film lediglich das Fazit, dass es keine Gewinner gibt in dieser Geschichte von Freundschaft und Verrat, alle verlieren.
Dem Zuschauer bleibt es jedoch überlassen, zu entscheiden, wer mehr verloren hat, die Figuren aus der Vergangenheit, die das Leben teilweise vertan und einen Freund verloren haben oder Noodles selbst, der scheinbar als Lebensinhalt und Halt nur seine Erinnerungen an glücklichere Zeiten bewahrt hatte und nun mit der Desillusionierung fertig werden muss. Die Frage, ob er das schafft, verschwindet wie Noodles selbst im Dunkel der Nacht, unbeantwortet auch von der letzten Einstellung, die nur Eingeständnis seiner Niederlage ist.

Diskussionen ruft auch immer noch der Abschluss seiner finalen Unterhaltung mit Max hervor, wenn Noodles auf einer einsamen Straße hinter dem Anwesen vor einem laufenden Müllwagen mit rotierenden Messern steht, der Anstalten macht, auf ihn loszufahren. Doch Noodles geht weiter und ein Stück entfernt, sieht er eine Gestalt aus dem Anwesen laufen. Doch der Müllwagen fährt vor die Gestalt und als er sie passiert, ist die Person verschwunden, nur die rotierenden Messer bleiben, als hätte sich die Gestalt dort hineingestürzt, das letzte verbliebene Abbild der Vergangenheit, die nun begraben ist.
Der Müllwagen verschwindet bis auf eine Leuchte ins Nichts und selbige wird zu einem Zug altertümlicher Autos mit einer feiernden Partygesellschaft. Ein Schatten aus der Zeit, the party is over.

„Es war einmal in Amerika“ ist die Apotheose des Gangsterfilms und das Referenzwerk, an dem auch Scorsese mit seinen „Gangs of New York“ nicht vorbeigekommen ist. Wer aber die kunstvoll-künstlichen Sets bei „Gangs“ gesehen hat und sie mit den Lagerhallenbauten im Schatten der Brooklynbridge in „Es war...“ vergleicht, wird wissen, warum.
Die Geschichte einer Stadt kann man nicht so einfach auf Film bannen, aber die Geschichte von Menschen schon. Und näher an echten Charakteren in einer total fiktiven Handlung kann man nach Leones Werk kaum noch kommen. (10/10)

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