Review

Wenn man mal auf eine Kritik zu Alejandro Jodorowskys viertem Spielfilm TUSK stößt, dann handelt es sich meist um eine, die dem Film bescheinigt, alles andere als ein Meisterwerk zu sein. Dementsprechend näherte ich mich ihm mit außerordentlich niedrigen Erwartungen. Wahrscheinlich lag es wohl auch daran, dass TUSK mich schließlich gar nicht schlecht unterhielt und vielmehr positiv überraschte. Sein Problem ist es wohl, dass jeder, der FANDO Y LIS, EL TOPO und MONTANA SACRA gesehen hat, äußerst hohe Ansprüche an ihn stellt, denen er nicht im Geringsten gerecht werden kann. TUSK besitzt weder besonders visionär Bildwelten noch das Chaos, das Jodorowskys Vorgänger auszeichnete. Selbst sein Tempo ist ganz anders als man es sonst von dem Chilenen kennt. Im Grunde wirkte TUSK auf mich wie der Versuch eines Avantgarderegisseurs, zu dessen Stärken es nicht unbedingt zählt, eine kohärente, von Anfang bis Ende logische, in sich schlüssige Geschichte zu erzählen, einen konventionellen Film zu drehen. Das Ergebnis ist dabei „normal“ genug, um Fans von EL TOPO zu verschrecken, und dennoch eigenwillig genug, um TUSK auch nicht zu einem Mainstream-Werk, das für jeden geeignet ist, werden zu lassen. Somit sitzt Jodorowskys Adaption eines Kinderbuches zwischen allen Stühlen und unter dem Gesichtspunkt ist es für mich auch ansatzweise nachvollziehbar, dass der Regisseur selbst angeblich forderte, dass sämtliche Kopien des Films zerstört werden sollten. Was ich allerdings schade gefunden hätte, denn trotz alledem bot TUSK vor allem in seiner ersten Hälfte einiges, das mich nicht bereuen ließ, ihn mir angeschaut zu haben. 

TUSK spielt in Indien, zu einer Zeit, als das Land englische Kolonie ist. Zur selben Zeit werden ein Mädchen und ein Elefant geboren, die das gleiche Schicksal teilen, denn ihre beiden Mütter sterben bei der Geburt. Das Mädchen ist die Tochter eines britischen Kolonisten und wird auf den Namen Elise getauft. Zu einem ihrer ersten Geburtstage bekommt sie den Elefanten geschenkt, dem man den Namen Tusk gab, und eine intensive, spirituelle Beziehung beginnt sich zwischen beiden aufzubauen. Als ihr Vater den Elefanten als reif genug erachtet, um als Arbeitstier gebraucht zu werden, sollen seine indischen Untergebenen seinen Willen brechen und ihn gewaltsam zum Gehorsam zwingen. Selbst Elise, die ihren Vater bittet, Tusk nicht zu knechten, scheitert mit ihren Bitten. Schließlich verbarrikadiert sich das kleine Mädchen in seinem Zimmer und verweigert jegliche Nahrungsaufnahme, so wie Tusk, der, statt sich zu unterwerfen, in einen Hungerstreik tritt. Bei beiden versucht Elises Vater sich einzuschmeicheln, doch Tusk spuckt alle Früchte, die er ihm ins Maul steckt, sofort wieder aus und seine Tochter weigert sich, die Tür ihres Zimmers zu öffnen. Erst als Elise mit einem indischen Weisen, mit dem sie befreundet ist, Tusk besucht, schafft dieser es, ihn zum Fressen zu bewegen. Ihr Vater lässt sich überzeugen und verzichtet darauf, Tusk zu einem Lastelefanten ausbilden zu lassen.
Jahre vergehen, in denen Tusk und Elise unzertrennliche Freunde werden, doch als sie ein gewisses Alter erreicht, wird sie von ihrem Vater nach England geschickt, um dort zur Schule zu gehen. Schweren Herzens trennt sich das Mädchen von seinem geliebten Elefanten. Wieder verstreichen Jahre. Elise kehrt als Frau zurück. Ihr Vater gibt ihr zu Ehren ein rauschendes Fest, zu dem er sämtliche ihrer britischen Freunde in Indien eingeladen hat. Elise jedoch sorgt für einen Eklat, indem sie in traditioneller indischer Tracht dort auftaucht. Ihr Vater entscheidet sich schließlich gegen seinen Ruf und dafür, die Ideale seiner Tochter zu akzeptieren.
Dieser gesamte Anfang hat mir außerordentlich gut gefallen. Jodorowsky konzentriert sich mehr als in seinen vorherigen Filmen auf die Psychologien seiner Figuren, bei denen vor allem Elises Vater hervorsticht, der einen durchaus ambivalenten Charakter besitzt. Einerseits ist John Morrison ein typischer Kolonist, der die Inder, die für ihn arbeiten, zwar nicht verachtet, jedoch immer unter dem Blickwinkel des kulturell über ihnen Stehenden betrachtet, sie nicht wie Sklaven behandelte, aber auch nicht wie Menschen, die sich mit ihm auf einer Augenhöhe befinden. Elises Sympathien für das Land Indien, das außerhalb der engen Grenzen des Mikrokosmos der englischen Eroberer existiert, sind es, die ihm die Augen öffnen und ihn ein bisschen von seiner überlegenen, herrschenden Position abrücken zu lassen, wobei der Film offen lässt, ob ihr Vater dies aus Überzeugung tut oder ob er nur so handelt, um die Liebe seiner Tochter nicht zu verspielen. Ebenfalls von Elise eingenommen ist der Abenteurer Richard Carin, der sich kurz vor ihrer Ankunft mit ihrem Vater anfreundete, und sie gegen die Anfeindungen der britischen Partygäste, die sich über ihre Loyalitätsbekundung der indischen Urbevölkerung gegenüber entsetzt zeigen, verteidigt, wobei auch bei ihm fraglich bleibt, ob er damit die Überheblichkeit seiner Landsleute in ihre Schranke verweisen möchte oder ob es ihm einzig darum geht, Elise für sich zu gewinnen, in die er offenbar verliebt ist.
Tusk befindet sich noch immer im Besitz der Familie Morrison, doch das soll sich laut Meinung der beiden Ganoven Shakley und Greyson alsbald ändern, die sich mit zwei Indern verbünden, von denen einer im Dienst der Morrisons steht, um Tusk zu entführen und gewinnbringend zu verkaufen. Greyson und Shakley inszenierte Jodorowsky wie eine übersteigerte Version der Banditen zu Beginn von EL TOPO. Shakley ist permanent besoffen und Greyson schickt sich permanent mit einer Pfeife, in der er nicht nur Tabak raucht, ins Nirwana. Ernst zu nehmen sind die beiden keine Sekunde und ihre Schauspieler beschränken sich zumeist darauf, Grimassen zu schneiden und alberne Slapstick-Szenen zu bestreiten. Dementsprechend gelingt die Entführung Tusks auch nicht. Der Elefant entwischt den Ganoven und Elise zieht alleine los, um ihn zu finden. Als sie auf einer Wiese von einem andern Elefanten attackiert wird, taucht Tusk in letzter Sekunde auf und errettet sie, indem er den feindlichen Dickhäuter mit seinen Stoßzähnen erlegt. Elise entlässt Tusk nun endgültig in die Freiheit und verabschiedet sich von ihm. Allerdings ist dies nicht das Happy End für den Elefanten und das Mädchen.
Wieder folgt ein Zeitsprung. Richard Carin, der nach Jahren zu Morrisons Gut zurückkehrt, unterbreitet dem den Vorschlag einer Großwildjagd. Bei einem Besuch beim Maharadscha fordert dessen Geliebte, dass der sagenumwobene Elefant Tusk eingefangen werden solle, damit sie sich aus dem Elfenbein seiner Stoßzähne eine hübsche Kette fertigen könne. Morrison und Carin achten wieder nicht auf Elises Beteuerungen, dass sie wenigstens Tusk verschonen sollen, und so begleitet sie den Zug in den Dschungel, um ihren Freund aus Kindertagen so gut beizustehen wie möglich. Und auch Greyson und Shakley sind wieder mit von der Partie. 

TUSK ist ein Film, der im Laufe seiner zwei Stunden immer mehr abfällt und vor allem die letzte halbe Stunde hat mich ziemlich enttäuscht. Während Shakley und Greyson zuvor stets als Randfiguren auftauchten, deren Blödeleien dezent eingesetzt wurden, fangen sie in den dreißig Minuten vor Schluss deutlich damit an, dem Zuschauer auf die Nerven zu fallen. Jodorowsky verliert sich in Szenen, die wohl witzig sein sollen, es aber nicht sind, wenn er Shakley, Greyson und ihren verbündeten Inder viel zu viel Screentime einräumt. Zudem finde ich es fraglich, ob es das Ende, das suggeriert, dass Elise und Richard den Film als Liebespaar verlassen, wirklich gebraucht hätte, vor allem, da nicht klar ersichtlich wird, weshalb Elise die Liebe des Mannes erwidern sollte, der kurz zuvor auszog, um ihren geliebten Tusk zu erlegen. So sehr mir die psychologische Darstellung ihres Vaters gefallen hat, so sehr hapert es an der, die Elise und die Beziehung zu Tusk betrifft. Beide bleiben während des gesamten Films über blass. Bis auf vereinzelte Szenen am Anfang liefert der Film keine Erklärung dafür, was ihr inniges Verhältnis zueinander auszeichnet und weshalb sie sich so sehr zueinander hingezogen fühlen. Der Film behauptet als Tatsache, dass Elise und Tusk Seelenverwandte sind, ohne dass es aus der Handlung irgendwie ersichtlich werden würde. Auch bleibt offen, was nun eigentlich das Besondere an Tusk sein soll, dass mehrere Parteien darum streiten, wer ihn erlegen und sein Elfenbein besitzen darf. Rein objektiv betrachtet ist Tusk im Film nur ein Elefant unter vielen und höchstens für Elise einer, der aus den andern hervorsticht, weil sie emotional etwas mit ihm verbindet. Weshalb Tusk jedoch einen Ruhm genießt, der selbst der Frau des Maharadschas zu Ohren kam, die Antwort auf diese Frage bleibt das Drehbuch schuldig.

Etwas aufgewogen werden diese Fehler durch die Optik des Films, die zwar nichts mit den visuellen Orgien von EL TOPO oder MONTANA SACRA zu tun hat, jedoch trotzdem durchaus zu gefallen weiß. So beginnt TUSK gleich mit einer ziemlich beeindruckenden, mehrminütigen Kamerafahrt. Überhaupt entführt Jodorowsky die Kamera oft in ungeahnte Höhen, lässt sie in Vogelperspektive über dem Geschehen schweben. Beeindruckend fand ich auch den Einsatz der Elefanten, von denen man wohl selten so viele auf einem Haufen sieht wie in TUSK. Es gibt kaum eine Minute, in der nicht irgendein Dickhäuter auftritt.
Szenen, die eindeutig an Jodorowskys vorheriges Oeuvre erinnern, sind spärlich eingestreut. Zu erwähnen wären der Kampf, den Tusk mit einem anderen Elefanten zu bestreiten hat, die meisten Auftritt des indischen Weisen, der sich auch mal, wenn es die Situation erfordert, in ein Huhn verwandelt, und Elise, die, nachdem Shakley und Greyson sie am Ende entführten, verlassen auf der Spitze einer hohen Säule sitzt, wo die Gauner sie platzierten, um alle Möglichkeiten einer Flucht auszuschließen. Der Soundtrack bietet einige äußerst wirre Musikstücke. Am ehesten klingt das Ganze nach Kompositionen einer Progressive-Rock-Band, die man mit einer Prise indischer Folklore vermischte. Teilweise harmonieren die instrumentale Begleitung und die Bilder nicht wirklich miteinander (so wird Elise zu einer Musik entführt, die mich eher an einen schnulzigen Liebesfilm erinnerte), was jedoch nicht unbedingt ein Nachteil ist, sondern dazu beiträgt, dass der storytechnisch relativ gewöhnliche Film eine zusätzliche „verrückte“ Ebene erhält. Ein Highlight ist jedoch definitiv die angebliche Geliebte des Maharadschas, die dieser aus Las Vegas importierte und bei der es sich um einen Transvestiten handelt, der nicht mal seine Stimme verstellt, jedoch von allen offenbar als Frau behandelt wird.

Solche Kleinigkeiten sind es, die mich den Film, trotz all seiner Fehler, die vor allem die Handlung betreffen, eher positiv bewerten lassen. Dass Jodorowsky hinter der Kamera stand, ist für mich deutlich zu erkennen und wenn man weiß, dass sich hier wenig bis nichts an die Filme anlehnen wird, für die er gemeinhin bekannt ist, kann man TUSK durchaus wertschätzen, selbst wenn die letzte halbe Stunde mit so mancher Szene aufwartet, die es fast fertigbringt, den Gesamteindruck zu schmälern und den Film schlechter zu machen als er eigentlich ist. Auf eine „Fable Panique“, wie der Untitel bei den Eröffnungscredits lautet, in dem Sinne wie Jodorowsky diese Bezeichnung in den 60ern und frühen 70ern gebraucht, darf man bei TUSK jedoch nicht hoffen.

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