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Du côté d'Orouët ist ein weiterer vergessener Film der 70er, über den beinahe nirgendwo Hintergrundinformationen zu finden sind, der ein solches Schicksal allerdings ganz und gar nicht verdient hat. Auch bei Regisseur Jacques Rozier handelt es sich um einen eher unbekannten Filmemacher, dessen Karriere nicht viele Werke hervorbrachte. Sein bekanntester Film dürfte der knapp zwanzigminütige Paparazzi von 1964 sein, der von Brigitte Bardots Bedrängnis durch die im Titel erwähnten Sensationsphotographen bei den Dreharbeiten zu Godards Verachtung handelt. Mit dem fast zehn Jahre später entstandenen Du côte d'Orouët hat er ein Werk erschaffen, das ich mit keinem andern Film vergleichen kann, den ich bisher gesehen habe.

Roziers Heldinnen sind drei Mädchen in der Blüte ihrer Jugend, Joëlle, Kareen und Caroline, die mehrere Septemberwochen in einem Strandhaus nahe des Küstenorts Orouët verbringen. Über ihre wirklichen Leben außerhalb des Sommerurlaubs erfahren wir so gut wie nichts. Joëlle arbeitet als Sekretärin in einem Büro, Kareen und Caroline sind Cousinen. Das ist alles, was Rozier dem Zuschauer an Informationen zu Beginn bietet und nach den zweieinhalb Stunden sind es nicht unbedingt mehr geworden. Eine Handlung im klassischen Sinne sucht man vergebens. Rozier geht es nicht darum, eine Geschichte zu erzählen. Ausschließlich mit Handkameras inszeniert verleiht er seinem Film den Charakter einer Dokumentation. Tatsächlich wirkt es so, als ob die Mädchen während ihrer gesamten Ferien gefilmt worden seien und Rozier das vorhandene Material später zu hundertfünfzig Minuten zusammengeschnitten hätte. Die Schauspielerinnen der drei Mädchen können gar nicht genug gelobt werden. Scheinbar ohne sich an die Vorgaben eines Drehbuchs zu halten agieren sie vor den Kameras, als ob sie niemand beobachten würden, unbefangen und natürlich. Nur in einem einzigen Moment wendet sich Caroline direkt an den Zuschauer, blickt in die Kamera und teilt uns ihre Gefühle und Gedanken mit. Die Musik, die von der 1968 in Paris gegründeten Band Gong stammt, erklingt nur im Vor- und Abspann oder dann, wenn die Mädchen das Radio einschalten.

In der ersten Dreiviertelstunde werden Ereignisse aneinander gereiht, die in jedem anderen Film keinen Zutritt erhalten würden. Es handelt sich um Nicht-Ereignisse, dramaturgisch wenig wertvoll. Die Mädchen albern die meiste Zeit herum, sind vergnügt, genießen die Sonne, diskutieren über verschiedene Typen von Diäten, fangen Shrimps mit Netzen ein, spielen Karten, und obwohl der Film durch seine Montage, die Kamerawinkel und Kamerafahrten, seine gesamte Inszenierung eigentlich keinen Zweifel daran lässt, dass es sich bei ihm eben um keine Dokumentation handelt, verwischen die Grenzen und man hat nicht das Gefühl, einem Spielfilm beizuwohnen, sondern intime Momente mit den drei Protagonisten zu teilen, die alltäglicher und poetischer nicht sein könnten.

Erst nach einer Dreiviertelstunde bekommt das Triumvirat Zuwachs in Form von Joëlles Chef Gilbert. Dieser hat zu Beginn eher zufällig erfahren, wo die Mädchen ihren Sommer verbringen wollen, und läuft ihnen angeblich ebenso zufällig am Hafen des nahen Küstenstädtchens über den Weg. Da er mit seinem Zelt am Strand kampiert, bittet er schon bald im Haus der Mädchen um Zuflucht vor einem Sturm – und verlässt es so schnell nicht mehr. Von nun an steht die Beziehung zwischen diesen vier Personen im Fokus des Films. Die Mädchen führen trotz des männlichen Gastes ihre Linie fort, benehmen sich kindlich und ausgelassen. Für sie scheint das Haus am Strand eine Bastion zu sein, die außerhalb ihrer Alltagswirklichkeit steht, ein Ort, an dem sie zu den Kindern werden können, die sie im wahren Leben nicht mehr sind. Die Anwesenheit von Gilbert nutzen sie zunächst vor allem, um mit ihm ihre Späße zu treiben, ihn zu necken und auszunutzen, während Gilbert, der ziemlich unbeholfen agiert, ständig versucht, die Mädchen zu beeindrucken und das Bild, das sie von ihm haben, zu verändern. Rozier bringt die psychologischen Motive allerdings nie an die Oberfläche. In einem subtilen Kontext spielen sich die Gefühle der Protagonisten ab, während an der Oberfläche die Reihe der Nicht-Ereignisse fortgesetzt wird. Man lernt einen jungen Segler namens Bernard kennen, mit dem vor allem Caroline anbandelt. Er nimmt sie mit zu einem Segeltörn. Zu fünft unternimmt man einen Ausritt. Man hört Radio und döst in der Sonne. Und allmählich integriert sich der um Anerkennung suchende Gilbert in die Gruppe.

Im Grunde ist Gilbert die wahre Hauptperson des Films. Er ist eine tragische Gestalt, buhlt um die Gunst der Mädchen, vor allem um die von Joëlle, und stellt sich dabei derart tollpatschig an, dass er meistens das genaue Gegenteil von dem erreicht, was er eigentlich erreichen wollte. Selten habe ich eine fiktive Person derart liebgewonnen und sympathisch gefunden wie ihn. Seinen Höhepunkt erreicht der Film nach etwa zwei Stunden, wo zum ersten Mal die bisher verborgenen, einzig vermutbaren und nicht sichtbaren Emotionen zum Ausbruch kommen. Gilbert hat einen großen Fisch gefangen und bereit ihn für das Abendessen zu. Caroline ist nicht zu Hause, sondern hat ein Date mit Bernard. Joëlle wäscht sich die Haare. Kareen liegt halb eingeschlafen auf ihrem Bett. In der Küche übertüncht Gilbert seine Unsicherheit mit Weißwein, während er den Fisch ausnimmt, die Kartoffeln kocht, die Soße kreiert. In einer der Schlüsselszenen des Films bricht Joëlle, nachdem sie das Bad verlassen hat, unvermittelt in Tränen aus. Den Grund dafür lässt Rozier uns höchstens ahnen. Eine eindeutige Erklärung liefert er uns nicht. Was folgt ist eine der großartigsten Szenen des Films. Kareen schläft während des Abendessens fast vor ihrem Teller ein, Joëlle kämpft mit den Tränen, die sie niemandem zeigen will, und Gilbert, durch das Verhalten der Mädchen völlig verunsichert, versucht, pausenlos Konversationen zu führen und trinkt immer mehr Wein. Am nächsten Tag reist er ab, nachdem er vor der inzwischen zurückgekehrten Caroline seine Fassade verliert und ihr, selbst den Tränen nahe, gesteht, dass er nur wegen Joëlle in die Gegend gekommen sei und begriffen habe, dass er ihre Liebe nie erlangen könne. Was Rozier hier gelang, ist eine der traurigsten Filmszenen, die ich jemals sah, trotz oder gerade weil sie völlig unspektakulär daherkommt. Für einen Moment bricht die äußere Welt in das Paradies der Mädchen ein, und zwar in Form von Gefühlen, die ihnen, dem Ort und dem Film die Unschuld nehmen. Der Sommer neigt sich seinem Ende zu. Kurz danach reisen die Mädchen selbst ab, mittlerweile wieder in der albernen Stimmung des Beginns.

Trotz seiner epischen Länge und seines belanglos klingenden Inhalts ist Du côté d'Orouët wohl einer der besten französischen Filme, die ich jemals gesehen habe. Wo andere Regisseure sich Strukturen, Elementen und Mechanismen des Mainstream-Kinos bedienen, um sie zu demontieren und zu zerstören und dann zu etwas Neuem zusammenzusetzen, da ignoriert Rozier deren Existenz einfach und dreht einen Film, der ohne radikale Szenen, ohne Wut und Hass, ohne avantgardistische Experimente, so wirkt, als hätte es Hollywood nie gegeben. Du côté d'Orouët ist ein natürlicher Film, trotz seiner Laufzeit keine Sekunde langweilig, zudem recht hastig geschnitten, und vor allem äußerst witzig und unterhaltsam. Für mich definitiv ein Meisterwerk.  

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