Kein geringeres Werk als Georges Batailles Erzählung „Histoire de l’oeil“ stand Pate für den nahezu unbekannten Film SIMONA, inszeniert von einem gewissen Patrick Longchamps, der in der Folgzeit als Regisseur scheinbar nie wieder in Erscheinung getreten ist. Am ehesten dürfte die Mitwirkung von Laura Antonelli das Publikum damals in die Kinos gezogen haben, die mit ihrer Hauptrolle in der Sexkomödie MALIZIA Aufsehen erregte. Zwar wurde SIMONA vor MALIZIA gedreht, allerdings erschienen die beiden Filme in chronologisch vertauschter Reihenfolge in den Kinos. Genutzt hat die Mitwirkung Antonellis scheinbar nicht viel, um zu verhindern, dass SIMONA völlig in der Versenkung verschwand. Kaum Informationen sind über den Film zu erhalten, was mich gespannt werden ließ, ob einen hier nicht ein verschollenes Kunstwerk, ähnlich vielleicht Silvano Agostis Nel più alto die cieli, erwartet.
Zunächst ist festzustellen, dass SIMONA in zwei etwa gleichlange Teile zerfällt, von denen der erste sich recht dicht an Batailles literarische Vorlage hält. Hier wie dort wird das Kennenlernen eines jungen Mädchens und eines jungen Manns beschrieben, die sich in sexuellen Ausschweifungen verlieren. Es dauert nicht lange bis eine dritte Person sie zum Trio erweitert: ein weiteres Mädchen namens Marcelle, von Sexualität noch unbefleckt, das von den beiden Protagonisten in die Erotik eingeführt wird und bei einer Orgie seinen Verstand verliert. Bis hierhin weicht die Geschichte nicht sonderlich von der Batailles ab. Ein Unterschied wäre, dass in SIMONA ein Erzähler, der im gesamten Film nicht auftauchen wird, das Geschehen aus dem Off kommentiert, während es sich bei Batailles Text um eine Ich-Erzählung aus der Sicht des namenlos bleibenden jungen Manns handelt, den man im Film den Vornamen Georges verpasste. Freilich wird hier niemals die Drastik von „Histoire de l’oeil“ geboten. Batailles Kurzgeschichte ist in einer betörend poetischen Sprache verfasst, die selbst den heftigsten Gewalt- und Sexszenen eine lyrische Schönheit verleiht. Im direkten Vergleich muss man SIMONA beinahe als prüde bezeichnen. Dass man keine Hardcore-Szenen zu sehen kriegt, mag noch verständlich sein, doch selbst entblößte Brüste sind eine Seltenheit, von primären Geschlechtsorganen ganz zu schweigen. Auch beschränken sich die meisten sexuelle Handlungen auf konventionelle, harmlose Praktiken. Die Szene, in der Georges Simona Eier in ihrer Vagina einführt und diese sie daraufhin ausscheidet, bildet die einzige etwas gewagtere Darstellung, und wird höchstens angedeutet. So macht es Sinn, dass man dem Film nicht mit dem Originaltitel belegte, denn Batailles Analogie bezüglich Eiern, Stierhoden und Menschenaugen sucht man hier vergebens.
In der zweiten Hälfte glaubt man dann, einen komplett anderen Film zu sehen. Die literarische Vorlage wird völlig aus dem Blickfeld verloren. Georges und vor allem Simona werden, trotzdem sie laut Filmtitel die Hauptperson sein soll, zu Nebenfiguren, nachdem Marcelle von ihrem Vater und ihrem Onkel in deren Familienschloss eingesperrt wurde, um sie vor dem schädlichen Einfluss ihrer Freunde zu bewahren. SIMONA nimmt eine Wendung zu einer düsteren, tragischen Familiegeschichte, konzentriert sich vollkommen auf die Charaktere der Marcelle und ihrer beiden männlichen Familienmitglieder sowie ihrer Mutter, die vor Jahren auf rätselhafte Weise ums Leben kam. Wir erfahren, dass Marcelle eine sexuelle Beziehung mit ihrem Onkel unterhält, und dass ihr Vater, der das Schloss mit ausgestopften Tieren bevölkerte, offensichtlich dem Wahnsinn verfallen ist, was sich alsbald auf sämtliche Bewohner des Schlosses überträgt. Der Film gipfelt in einer Rettungsaktion von Georges und Simona, die Marcelle dem Einfluss ihres Onkels und Vaters entziehen wollen, in einer Rückblende, die das Schicksal ihrer Mutter enthüllt, und schließlich mehreren recht blutigen Morden. Am Ende erinnert Simona sich bei einem Stierkampf an die vor langer Zeit geschehenen Ereignisse. Der Stier, der in der Arena getötet wird, verwandelt sich für sie in ein Symbol für die tote Marcelle, die von ihr zu einer Heiligen erklärt wird.
SIMONA wirkt zerrissen und hinterlässt einen unbefriedigenden Eindruck. Sein Fehlen jeglicher Struktur, seine Wende etwa in der Mitte, wo unerwartet Marcelle zur Hauptperson und eine komplett neue Geschichte erzählt wird, scheinen mir nicht Ausdruck eines künstlerisches Konzept zu sein, sondern vielmehr der Ratlosigkeit der Macher geschuldet, die sich offenbar nicht entscheiden konnten, in welche Richtung sich der Film entwickeln soll. Fraglich ist, weshalb man all die Bataille-Bezüge einbaute, wenn das Werk sie zum Ende hin völlig aus den Augen verloren hat. Eine Übereinstimmung mit der Aussage des Originaltextes und Longchamps Film konnte ich jedenfalls nicht ausmachen. Auch für sich allein betrachtet, ohne die Geschichte des Auges jemals gelesen zu haben, kann der Film nicht wirklich überzeugen. An manchen Stellen blitzt zwar eine eigenwillige Poesie auf, die sich vor allem in einigen wunderschönen Aufnahmen äußert (der nächtliche Flug von Schwalben, ein verlassenes Küstendorf, das von einem Sandsturm durchweht wird, die finstren Kammern und Zimmer des Schlosses, Marcelle und Simone nur mit Bettlaken bekleidet in zärtlicher Umarmung), doch schafft es der Film nicht, sie kontinuierlich durchzuhalten, immer wieder treten Brüche auf und die einzelnen Szenen scheinen oft nicht zusammenzupassen. Die Szene, in der Georges, Simona und Marcelle einen Friedhof aufsuchen, hätte durchaus zu etwas Großem werden können. Cherubinstatuen erwachen zum Leben und leisteten ihnen Gesellschaft bei ihren sexuellen Spielen. Die Grenzen zwischen Marcelles Einbildung und der Wirklichkeit verwischen. Leider ertrinkt alle morbide Poesie der Szene, die anfangs durchaus vorhanden ist, wenn die Kamera über Gräber und Statuen schweift, in der unfassbar albernen Weise, mit der man die Orgie inszeniert. Zu ausgelassenem Swing wälzen sich die Menschen und Statuen herum, tanzen durch die Krypten, und bieten einen eher unfreiwillig komischen Anblick.Zum Ausgleich bietet der Film jedoch kurz vor Schluss eine Szene, die mich enorm begeisterte und die es, meiner Meinung nach, rechtfertigt, ihn sich zu betrachten, selbst wenn der Rest noch so bruchstückhaft und zusammenhangslos erscheint. Nachdem der Tod in das Schloss von Marcelles Familie einkehrte, folgt in ungewöhnlicher Form das Leben: die Tiere, mit denen ihr Vater das Schloss ausstopfte, erwachen aus ihrem Todesschlaf. Rehe, die vorher reglos auf Sockeln standen, hüpfen umher. Unzählige Vögel flattern durch die Flure. Junge Bären und Füchse tollen zwischen den Möbeln. Im Grunde ist das der einzige Moment, wo der Film tatsächlich das erreicht, was er wohl erreichen wollte: zu einem Stück ungebrochener Poesie zu werden. Da stört es auch nicht, dass die Szene, wie viele andern, in keinen Bezug zur eigentlichen Handlung gebracht werden kann. Immerhin zeigt sie, dass in SIMONA durchaus Potential geschlummert hätte. Dennoch kann ich mir nicht vorstellen, dass ihn irgendwer für ein Meisterwerk oder wenigstens ein besonders gelungenes Drama hält.
Zumindest ist er ein recht einzigartiger, wenn auch ziellos umherirrender, tastender Film mit einigen hübschen Naturaufnahmen und einer einzigen wirklich großartigen Szene. Wer jedoch auf einen Skandalfilm mit vielen expliziten Sex- und Gewaltszenen hofft, wird leider ebenso enttäuscht werden wie der, der eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Georges Bataille erwartet.
Eine Szene, die mehr mit Batailles Augenfetisch gemein hat als der gesamte vorliegende Film, findet sich übrigens in dem äußerst empfehlenswerten SPELL von Alberto Cavallone.