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Stasis & Liberty

Bis 1959 war es die höchste Statue der Welt: die Freiheitsstatue, die ganz in der Tradition des Kolosses von Rhodos stand und bereits um 1870 geplant und schließlich 1886 fertiggestellt worden war. Man kann sich selbstverständlich darüber echauffieren, dass die Vereinigten Staaten eine Freiheitsstatue erhielten, während es zugleich noch kein Frauenwahlrecht gab, die Farbigen erheblichen Diskriminierungen unterlagen und die Indian princess als Symbol zunehmend - weil Täter ihren Opfern nicht verzeihen können - von der weißen Columbia verdrängt worden war; und bezeichnenderweise nutzten die Frauen und die Farbigen den Einweihungstag, um für ihre Rechte einzutreten. Aber trotz so mancher Unfreiheiten & Ungerechtigkeiten in den USA setzte sich die Freiheitsstatue als "a highly potent symbol - inspiring contemplation, debate, and protest - of ideals such as liberty, peace, human rights, abolition of slavery, democracy, and opportunity"[1] durch und "has welcomed millions of immigrants to the United States since it was dedicated in 1886"[2], wie es die UNESCO ein Jahrhundert später beschrieb.

Thomas Alva Edison hatte schon vor der Errichtung der Freiheitsstatue Interesse an diesem Projekt gezeigt und angeboten, einen Phonographen am Mund der Statue anzubringen, sodass man die Statue auf den Schiffen im Hafen auch hätte hören können.[3] Zwölf Jahre nach der Einweihung führt ihn dann ein Filmprojekt zur Freiheitsstatue zurück: Die filmische Würdigung der Freiheitsstatue stammt von James H. White, einem gebürtigen Kanadier, der rund 500 Kurz-Stummfilme für die Edison Manufacturing Company anfertigte. White, der dort wie William K. L. Dickson & William Heise vorwiegend - aber nicht ausschließlich! - dokumentarische Filme erstellte (wohingegen etwa Edwin S. Porter und James Searle Dawley die Edison Manufacturing Company mit Spielfilmen versorgten), drehte den allergrößten Teil seiner Film in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre - und die Filme fallen oftmals so statisch aus, wie man es von den meisten Filmen aus diesen Jahren gewohnt war.[4]

Vielleicht liegt es an dieser Statik, dass "Statue of Liberty" etwa auf der IMDb bei immerhin 120 Stimmen eine erstaunlich schlechte User-Wertung (3,6/10) erzielt, die doch recht deutlich von den typischen Wertungen sonstiger ereignisarmer Dokumentarfilme jener Jahre abweicht. Es mag vielleicht auch ein Antiamerikanismus hineinspielen, der diese Lobpreisung des us-amerikanischen Wahrzeichens so schlecht wegkommen lässt, aber man kommt nicht drumherum, "Statue of Liberty" zu attestieren, dass er über Gebühr unspektakulär und formal unbefriedigend ausgefallen ist.
"Statue of Liberty" zeigt die Freiheitsstatue vom Wasser aus: aus süd-südwestlicher Perspektive blickt die Kamera auf die Statue und bewegt sich dabei nach rechts. Man sieht die rechte Seite und die Vorderseite der Statue, die mitten auf Liberty Island steht, welches anfangs gänzlich im Bild zu sehen ist, sich aber schon am linken Bildrand befindet. Die - auf auf dem Schiff statische, aber aufgrund des Schiffes bewegte - Kamera bewirkt aber keinen bemerkenswerten Perspektivwechsel. Nicht annähernd wird die Freiheitsstatue umkreist, es gibt keinen Wechsel von der Profilansicht zur Frontalansicht: Liberty Island selbst gerät im Laufe der halben Minute ein wenig außerhalb des linken Bildrands, einmal scheint die Kamera ruckartig einen minimalen Schwenk nach links zu vollführen, zweimal sorgen Schwankungen des Schiffes auch dafür, dass Liberty Islands Ufer an das Ende des unteren Bildrands und wieder zurück wandert. Zwei Pfeiler im Wasser im Vordergrund lassen einen kleinen Perspektivwechsel ebenfalls augenfällig werden.
Haben - heutzutage gern als unspektakulär verkannte - Filme wie "Rough Sea at Dover" (1895), der statisch auf das Wellenspiel an einer Mauer an der Küste Dovers blickt, noch die rhythmische Wellenbewegung zu bieten, die ja in den frühesten Filmaufnahmen noch zu den klassischen Bewegungsstudien zählen (wie in "La vague" (1891)), so ist die Bewegung, die das wohl charakteristischste Element des Mediums Film bildet, in "Statue of Liberty" kaum von Bedeutung. Zentraler Gegenstand der Aufmerksamkeit des Films ist die unbewegliche Freiheitsstatue; die Kamera selbst bleibt auch weitestgehend statisch, blickt aber von einem Schiff, das ein Minimum an Bewegung ins Spiel bringt (und selber nicht im Bild zu sehen ist), auf die Statue. Das Wasser um Liberty Island ist zwar zu sehen, erstreckt sich aber aufgrund der hohen Position der (nicht geneigten) Kamera nicht sonderlich weit in den Vordergrund des Bildes. Dem Nebeneinander des Fluiden und des Statischen, dem Nebeneinander von Wasser und Stein, welches "Rough Sea at Dover", Guys herausragender "Effets de mer" (1906) oder jüngst de Oliveiras Viennale-Trailer "Chafariz das Virtudes" (2014) so beeindruckend in Szene setzen, gilt hier kaum die Aufmerksamkeit - weil die Bewegung des Wassers kaum im Bild wahrzunehmen ist.

Allerdings lässt sich die Bewegung des Wassers indirekt wahrnehmen, indem sie das Schiff zum Schwanken bringt, auf welchem die Kamera steht. Die durch das Gefährt, durch das Schiff in Bewegung geratende Kamera enthält zwar nahezu gar nichts von der Rasanz zeitgenössischer phantom rides (oder jener Schiffsfahrt-Panoramen, die wie z.B. "Barcelone, panorama du port I" (1896), "Panorama des rives de la Seine à Paris" (1896), "Panorama du casino pris d'un bateau" (1897) oder "Lago Maggiore et Lago di Como" (1907) auf ein recht nah vorbeiziehendes Ufer blicken), weist aber durch die Wasserbewegung jenen durch Wellen zum Wogen gebrachten Blick auf, der etwa auch "Vue prise d'une baleinière en marche" (1901) durchzieht und einige Einstellungen in "The Launch of H.M.S. Albion" (1898) oder "Whaling Afloat and Ashore" (1908) auszeichnet.
Dieses zweimalige Auf & Ab gerät aber in "Statue of Liberty" nicht allzu intensiv, bleibt stattdessen mild und gemächlich. So profitiert zwar auch "Statue of Liberty" vom Kontrast zwischen starrer Statik (der Statue) und freier Beweglichkeit (des wogenden Blickes) - aber dieser Kontrast erreicht hier ein relativ unbeeindruckendes Level, wenngleich solch ein wogender Kamerablick 1898 noch zu den seltenen Ausnahmen zählt.
So bleibt "Statue of Liberty" ein insgesamt ziemlich flauer Film: Dramaturgisch fällt die Bewegung gänzlich unspannend aus (kein neues Motiv gerät ins Bildfeld hinein und nicht das zentrale, sondern bloß ein unbedeutendes Motiv verlässt das Bildfeld), der Kontrast starren Steins und wogenden Wassers ist im Bild nahezu abwesend, der durch Wellen in Bewegung gebrachte, schwankende Kamerablick lässt die radikalere Intensität anderer zeitgenössischer Filme missen. Zwar geht der Vorwurf, dass ein bewegungsarmer Blick auf ein rein statisches Objekt keinen guten Film ergeben könne, ein wenig ins Leere: die stasis-Filme des strukturellen Experimentalfilms und des New American Cinema - kulminierend in Warhols "Empire" (1964)! - und großartige Werke James Bennings (wie "13 Lakes" (2004)) hatten das immer wieder bewiesen. Aber selbst wenn "Statue of Liberty" heute in einer restaurierten, gestochen scharfen Form vorliegen würde, welche es einem erlauben würde, sich auf die Wasseroberfläche und das Wolkenspiel zu konzentrieren, würde sicherlich kein bestechendes Filmerlebnis dabei herauskommen: denn für einen stasis-Film fehlt "Statue of Liberty" wieder die formstrenge Starre des Blickes, die das Interesse auf solche ganz kleinen, minimalen Bewegungen des Bildes lenken würde. So hockt der Film ein wenig zwischen den Stühlen: Der Kamerablick ist zu unruhig für einen minimalistischen stasis-Film, diese Unruhe ist aber auch nicht intensiv genug, um unter den raren Kamerablickbewegungen jener Jahre aufzufallen; und die Motive sind zu leblos, um die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. So bleibt dann tatsächlich bloß ein etwas konzeptlos anmutender Streifen übrig, der dem Publikum die Freiheitsstatue näherbringen will und auch 1898 kaum einen nennenswerten Mehrwert gegenüber einer bloßen Fotografie gehabt haben (und dennoch seinen Zweck erfüllt haben) dürfte. (Immerhin: In Zeiten von Einreiseverboten und Mauerbau-Projekten ist die Freiheitsstatue ein amerikanisches Wahrzeichen, das man gerne sieht...)
4,5/10


1.) http://whc.unesco.org/en/list/307
2.) Ebd.
3.) Vgl. Edwin G. Burrows, Mike Wallace: Gotham. A History of New York City to 1898. Oxford University Press 1999; S. 1062.
4.) Seine Eiffelturm-Filme fallen etwas spektakulärer aus: "Scene from the Elevator Ascending Eiffel Tower" (1900) lässt quasi als Lumière-"Remake" die Kamera im Eiffelturm hochfahren (
und weist einige Schnitte auf, mit denen die Perspektive wechselt), "Panorama of Eiffel Tower" (1900) schwenkt von den Menschen am Fuße des Eiffelturms zu dessen Spitze und wieder zurück. Diese Ausnahmen in der Spätphase von Whites Filmemacher-Karriere sind aber nicht charakteristisch für Whites Inszenierungen.

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