[ACHTUNG, SPOILERGEFAHR!]
Choko ist ein kühles Mädchen, das selten lächelt. In der Grossstadt Tokyo aufgewachsen, zieht sie nun zusammen mit ihrem Vater in die Provinz. In der örtlichen Schule gibt sie sich vornehm und distanziert, was ihre Mitschüler spöttisch stimmt. Doch ein Mädchen öffnet sich Choko. Es ist die verträumte Shinko. Shinko hat einen unsichtbaren Freund, der sie ständig begleitet, geschickt übers Wasser hüpfend. Ausserdem pulsiert in ihrem Kopf die Vision einer Stadt von vor hundert Jahren; die soll nämlich genau hier gestanden haben, wo jetzt endlose Felder in der Sonne wiegen. Mit ihrer Phantasie und Freundschaft will sie Choko das Lachen beibringen. Um die beiden Mädchen bildet sich bald eine kleine Rasselbande, die allerlei Abenteuer erlebt. Kann Choko ihre Lebensfreude wiedergewinnen, oder wird sie nie über das geschehene Unglück, den Tod ihrer Mutter, hinwegkommen?
Stilistisch und inhaltlich ähnelt Das Mädchen mit dem Zauberhaar der Handschrift Hayao Miyazakis. Insbesondere zu Mein Nachbar Totoro gibt es einige Ähnlichkeiten. Allerdings ist der vorliegende Film kein billiger Abklatsch, sondern ein Werk, das auf eigenen Beinen stehen kann. Tatsächlich hat Regisseur Sunao Katabuchi einen überaus sehenswerten Anime geschaffen. Das Mädchen mit dem Zauberhaar hat Phantasie, Herz und die nötige Ernsthaftigkeit. Denn ein guter Kinderfilm nimmt seine Zuschauerinnen und Zuschauer ernst. Er beschäftigt sich mit manifesten Problemen und versucht nicht einfach, die Kinder in einer Phantasiewelt einzulullen. Das ist Miyazakis Stärke: Seine Anime sind immer in realen Problematiken fundiert. Katabuchi nimmt diese Philosophie auf. Oder, besser: Er nähert sich ihr von der umgekehrten Seite. Der Film beginnt sonnig und leichtfüssig, doch bald schon ziehen Schatten auf. Grossartig die Szene, in der Choko, Shinko und ihre kleine Schwester aus Unwissenheit Schokoladenlikör verzehren. Plötzlich ruft Choko im Rausch: „Meine Mutter ist tot! Meine Mutter ist tot!“ Dabei lacht sie, die beiden anderen stimmen mit ein. Eine so düstere und tragikomische Wendung hätte ich nicht im Traum erwartet. Und doch kam sie, unversehens und völlig unverkitscht. Davon könnten sich auch Dramen für Erwachsene eine Scheibe abschneiden.
Mit den Standards von Studio Ghibli kann die Animation nicht ganz mithalten. Die Menschen sind etwas „härter“ gezeichnet, gehen nicht flüssig in die Hintergründe über. Gleichwohl ist der Zeichenstil des Animes sehr hübsch. Die Designs der Charaktere sind putzig und liebenswert. Ausserdem wurde offenbar viel Wert auf die Bewegungen und Gesichtsausdrücke der Hauptfiguren gelegt. Diese kommen nämlich authentisch und lebensnah herüber. Nein, an der Animation gibt es absolut nichts auszusetzen. Der Soundtrack ist etwas repetitiv, greift immer mal wieder ein schrulliges A-Capella-Stück auf. Abgesehen davon ist mir die Musik nicht unbedingt aufgefallen. Weder negativ, noch positiv.
Das Mädchen mit dem Zauberhaar zeichnet selbstständige und dreidimensionale Figuren. Diese Kinder ziehen sich nicht kampflos zurück, versinken nicht im Selbstmitleid, sondern versuchen, der Welt etwas Gutes abzugewinnen – auch, wenn immer evidenter wird, dass sie eben nicht nur schön ist. Gegen Ende des Filmes begeht der Vater eines der Kinder Suizid. Das Ereignis wird sogar mit Prostitution in Verbindung gebracht. Daraufhin besuchen Shinko und der Sohn des Verstorbenen das Rotlichtmilieu, um die Ehre des Letzteren wiederherzustellen. Spätestens hier dürfte klar werden, dass der Film Themen behandelt, die nicht für alle Kinder verständlich oder geeignet sind. Vielleicht geht der Film an dieser Stelle tatsächlich zu weit. Das kann und will ich nicht beurteilen. Mir persönlich hat dieser Abstecher in zwielichtigere Gefilde eigentlich gefallen. Denn er stellt erneut den Willen unter Beweis, die jungen Zuschauer für voll zu nehmen. Unter einem anderen Gesichtspunkt ist die Episode mit dem „blonden Gift“ allerdings problematisch. Denn sie scheint mir nicht organisch zum Rest des Filmes zu passen. In ihm sollte es doch primär um die Beziehung zwischen Shinko und Choko gehen. Die wird auch wunderbar ausgearbeitet. Nur droht dieser rote Faden gegen Ende hin auszufransen. Plötzlich gibt es noch ein ganz anderes Problem, auf das man sich als Publikum erst einstellen muss. Die Wendung ist einerseits interessant, andererseits lenkt sie vom Wesentlichen ab. Zuletzt kriegt der Film zwar noch die Kurve, aber dramaturgisch ist da trotzdem was schief.
Nun, was ist eigentlich das Hauptmotiv von Das Mädchen mit dem Zauberhaar? Dieses: Shinko und Choko erfahren, dass in der Stadt von vor tausend Jahren ein Mädchen gehaust hat, das so alt war wie sie. In Shinkos Phantasie – und mithilfe ihres Zauberhaars, des „Mai Mais“ – wird aus dem Mädchen ein einsames. Es ist in einem grossen Haus eingesperrt und wünscht sich nichts sehnlicher, als eine Freundin. So spielen sich parallel zwei Geschichten auf zwei verschiedenen Zeitebenen ab. Die Storyline in der Vergangenheit ist nicht ganz so überzeugend wie diejenige in der Gegenwart. Ihr wird zu wenig Zeit eingeräumt. Die Figuren wirken skizzenhaft bis archetypisch. Es geht eben um eine eingepferchte Prinzessin. Die Intention der zweiten Zeitebene ist relativ klar: Sie soll die Geschehnisse der Gegenwart spiegeln. Offensichtlich wird das, wenn Choko am Ende in die Rolle der Prinzessin schlüpft. Aber irgendwie geht das nicht ganz auf. Es ist wie der Deckel auf einen falschen Topf. Visuell ist die Geschichte der Prinzessin entzückend; es gibt einige wirklich hübsche Szenen mit Blumen und Blüten. Aber der Plot fällt trotzdem auf die Nase. Er transportiert zu wenig Emotion. Meine Vermutung ist, dass man eine „magische“ Komponente in den Film einbauen wollte. Bei Mein Nachbar Totoro geschehen auch phantastische Dinge, die einen zum Staunen bringen. Aber bei Totoro sind diese Stellen unverzichtbare Bestandteile des Films. Bei Das Mädchen mit dem Zauberhaar wirken die Ausflüge in die Vergangenheit fast wie Fremdkörper. Ich schreibe „fast“, weil es eben doch nett ist, hübsch und gut gemeint. Aber gemessen mit Miyazaki geht diesem Streifen schon ein bisschen die behauptete Magie des Zauberhaars ab.
Dieser Kritikpunkt geht einher mit der grössten Stärke des Films: der Porträtierung von glaub- und liebenswürdigen Kinderfiguren. Es macht wirklich Spass, den Charakteren bei ihren Abenteuern beizuwohnen. (Auch, wenn sie sich nur in einer Höhle vor den Augen einer Katze erschrecken.) Besonders schön ist die Geschichte um den Goldfisch. Hieraus, und nicht aus der zweiten Zeitebene, bezieht der Film seine wahre Magie. Die Kinder legen einen kleinen See an, in dem sie einen Goldfisch entdecken. Gemeinsam behüten sie ihn. Zuletzt verzieren sie den See mit allerlei ansehnlichen Sachen, um dem Goldfisch eine angenehme Umgebung zu schaffen. Diese Art von Zauber, nämlich ein alltäglicher, wäre mir mehr als genug gewesen. Da hätte nicht noch eine weitere Zeitebene eingeschaltet werden müssen. Der Stausee wird zum Secret Garden der Kinder – jedoch einer, der nicht gefeit ist vor Unheil. Von Verklärung keine Spur. Choko hat ihre Mutter verloren. Über diese Tatsache versucht der Film nicht mit oberflächlichem Firlefanz hinweg zu trösten. Sondern er sagt: Ja, das ist schlimm. Sehr schlimm sogar. Das macht kein Goldfischteich der Welt je vergessen. Und doch: Die Welt hat etwas Schönes. Trotz allem. Es ist nicht einfach, nach vorne zu sehen und dieses Schöne wahrzunehmen. Aber versuche es, so gut es dir möglich ist. Das ist eine reife, erwachsene Botschaft für Kinder.
Kurz und gut: Das Mädchen mit dem Zauberhaar weist dramaturgische Schlaglöcher auf, setzt die Schwerpunkte manchmal an den falschen Stellen, hat aber das Herz am rechten Fleck. Katabuchis Anime ist ein ernst zu nehmendes Drama mit einem guten Schuss Phantasie. Meiner Meinung nach ist man mit dem phantastischen Aspekt etwas unbeholfen umgegangen, aber das trübt den Gesamteindruck nur bedingt. Ein echt gelungener Zeichentrickfilm, der wesentlich mehr Aufmerksamkeit verdiente.