Review

"I wanted to describe the agony of a wounded soul of someone decaying from the inside."
(Kei Fujiwara)

Zwei Menschen befinden sich in einem kleinen, schäbigen Büro. Ein Mann und eine Frau. Letztere weiß über den Mann Bescheid, kennt sein dunkles Geheimnis, hat ihn quasi in der Hand. Sie nähert sich ihm, beginnt ihn langsam zu entkleiden. Als sie sein Hemd öffnet, bemerkt sie das große Geschwür, welches über seinen Bauch wächst. Ein riesiges, nässendes, tumorartiges Gewächs, das dort wild wuchert und dem Mann phasenweise starke Schmerzen bereitet. Die Frau begutachtet es, offensichtlich fasziniert, streckt ihre Hand aus und berührt es schließlich vorsichtig. Zärtlich streifen ihre zarten Finger über die unansehnlichen Wucherungen. Streicheln sie. Drücken sie. Plötzlich durchbrechen ihre Fingerspitzen die Oberfläche, dringen in die Beule ein. Diese erbricht prompt ihren schleimigen Inhalt. Die Frau gibt ein überraschtes "Shit" von sich und weicht erschrocken zurück, während sich der Mann vor Schmerzen windet und qualvoll stöhnt. Die Frau kann den Blick jedoch nicht vom Mann abwenden. Dann stiehlt sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. "This sure is funny", sagt sie und kichert leicht hysterisch. Und weiter, laut lachend: "Are you some kind of freak?" Sie schnappt sich ein Messer vom Regal neben ihr, klappt es auf, nähert sich ihm lächelnd. Und beginnt kichernd am Geschwür herumzuschnippeln. Mit besudelten Händen sagt sie dann - sichtlich erregt - unvermittelt: "Let's do it". Es kommt zum Sex. Doch der nimmt eine Wendung, welche die Frau wohl nicht erwartet hat.

Mahlzeit und herzlich Willkommen in der bizarren Welt von Kei Fujiwaras Organ, einem Film, der wohl das Nonplusultra des Ekelkinos darstellt. Umso überraschender ist es, daß dieser schonungslos drastische Körperhorrortrip das "Baby" einer Frau ist (das ist jetzt nicht diskriminierend gemeint; Fakt ist nun mal, daß der harte Splatterfilm eine Männerdomäne ist). Fujiwara hat Organ nicht nur geschrieben und inszeniert, sie zeichnet ebenfalls für die Bildgestaltung und das Produktionsdesign verantwortlich und tritt darüber hinaus auch noch vor der Kamera in Gestalt der einäugigen Yoko in Erscheinung. Die unorthodoxe Filme- und Theatermacherin hat zuvor gelegentlich als Schauspielerin gearbeitet; zu sehen ist sie unter anderem in den beiden Shin'ya Tsukamoto-Filmen Denchu Kozo no boken (Adventures of Electric Rod Boy, 1987) und Tetsuo (Tetsuo, the Iron Man, 1989). Bizarre Phantasien und schockierende Mutationen sind ihr also keineswegs fremd. Organ hat seinen Ursprung in einem Theaterstück, welches in Fujiwaras eigenem Avantgarde-Theater Organ Vital aufgeführt wurde. 1996 wurde die Filmversion in Japan veröffentlicht und sorgte für eine heftige Kontroverse. Daraus resultierend mußte der in fast allen Belangen extreme Streifen für die Kinoauswertung sogar geschnitten werden.

Worum geht es also in diesem kontroversen Schocker? Wir befinden uns in Tokio im Jahre 1996. Skrupellose Organhändler machen die Straßen unsicher. Die beiden Polizisten Numata (Takeomi Nasa) und Tosaka (Takaaki Furumoto) kommen der von den Geschwistern Yoko (Kei Fujiwara) und Saeki (Kimihiko Hasegawa) geführten Bande auf die Schliche, erleben beim Einsatz allerdings ein katastrophales Waterloo. Tosaka wird gefangen genommen, bekommt die Gliedmaßen amputiert, wird unter Drogen gesetzt und muß sein weiteres Dasein in einem kleinen Gewächshaus fristen, wo er seinem Peiniger hilflos ausgeliefert ist. Dieser füttert ihn nicht nur mit Blut, sondern nutzt seinen Körper auch noch für groteske Experimente. Numata hingegen wird vom Dienst suspendiert, seine Ehe zerbricht, woraufhin er sich in die Suche nach seinem vermißten Partner regelrecht hineinsteigert. Yoko bekommt Probleme mit der Yakuza, während der an einer mysteriösen Krankheit leidende Saeki - hauptberuflich als Biologielehrer tätig - leidenschaftlich seinem Hobby nachgeht... der Vergewaltigung und Ermordung von Schuldmädchen. Allerdings beginnt Saeki aufgrund der Einnahme von Drogen zu mutieren. Das Ende der Gang scheint schließlich gekommen, als Numata Saekis Schlupfwinkel findet und die Yakuza Jagd auf Yoko macht.

Diese Inhaltsbeschreibung ist bitteschön mit Vorsicht zu genießen, da Fujiwara eine lineare Erzählweise gleich zu Beginn über Bord wirft. Geschildert wird das grausige Geschehen aus der Erinnerung von Numata, und da dieser dem Wahnsinn bedrohlich nahe ist, überlagern sich manchmal Gegenwart und Vergangenheit, vielleicht sogar Realität und Delirium, und sorgen für heftige Verwirrung. Der Wechsel zwischen den unterschiedlichen Handlungsebenen erfolgt bisweilen so unheimlich rasant, daß man schnell die Übersicht zu verlieren droht und verzweifelt versucht, dem konfusen Durcheinander einen Sinn abzuringen. Organ funktioniert weniger als Spielfilm denn als fulminanter Bilderrausch, der ob seiner kompromißlosen Radikalität seinesgleichen sucht. Fujiwara suhlt sich förmlich in schleimigen und blutigen Widerlichkeiten, schafft es aber gleichzeitig, diese Szenen mit einer gewissen irritierenden Ästhetik einzufangen. So wie ein tödlicher Virus unter dem Mikroskop manchmal atemberaubend schön aussieht, so hat das wuchernde, verfaulende, mutierende Fleisch mit seinen grünen Schleim triefenden Pusteln etwas seltsam Faszinierendes an sich. Ja, Organ ist ein nicht enden wollender Alptraum aus Blut und Dreck und Gewalt und Eiter und Tod und Wahnsinn. Es ist ein Film der schmerzt, der uns mit Dingen konfrontiert, die wir unseren schlimmsten Feinden nicht wünschen würden. Und er nimmt den Zuschauer nicht etwa bei der Hand und bereitet ihn langsam auf den kommenden Schrecken vor. Nein, er packt ihn brutal an den Haaren und drückt ihn Gesicht voraus in die schleimige, stinkende, widerliche Fäulnis hinein.

Einige Einflüsse dieser surreal angehauchten Splatter-Extravaganza lassen sich problemlos identifizieren. Tetsuo von Shin'ya Tsukamoto etwa. Oder die schockierenden Mind-Fuck-Phantasmagorien eines David Lynch. Dann natürlich der Body Horror eines David Cronenberg, speziell Shivers und The Fly (letzterer wird sogar in einem Dialog zitiert). Und, last but not least, Hideshi Hinos einzigartiger Ginî piggu: Manhôru no naka no ningyo (Mermaid in a Manhole). Doch der auf 16mm gedrehte Organ ist kein billiger Abklatsch. Fujiwara greift gewisse Ideen lediglich auf, entwickelt sie konsequent weiter, und läßt sie schließlich kreischend Amok laufen. Das sorgt für einige kraftvolle, grauenhafte und/oder schöne Momente. Die Flashback-Sequenz von Yokos Kindheit ist ein Schlag in die Fresse, die kranke, hoffnungslose, nihilistische Stimmung des Streifens sorgt für körperliches Unwohlsein, und die grell ausgeleuchtete Geburtsszene (eine Frau windet sich kopfüber aus einer riesigen Schmetterlingspuppe) ist überwältigend in ihrer surrealen Schönheit. So trostlos und dreckig die Schauplätze in Organ sind, so pervers und verkommen ist der Großteil der Figuren, die diese Welt bevölkert. Es gibt keine Sympathieträger, keine Helden, niemanden, mit dem man mitfiebern möchte. Und das ist wohl auch der Grund, weshalb dieses Arthouse-Exploitation-Drama zwar ungemein beeindruckt und immens fasziniert, aber niemals emotional berührt. Als Zuschauer bleibt man auf Distanz, verfolgt all die Ungeheuerlichkeiten, die sich da auf dem Bildschirm entfalten, mit großen, ungläubigen Augen, ohne daß man vom Geschehen gepackt wird. Aber vielleicht ist das auch gut so. Denn hätte Organ auch noch eine emotionale Wucht wie z. B. Cronenbergs The Fly, wäre das Ergebnis wohl schier unerträglich.

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