Man schrieb das Jahr 1903, als „Narration" für das Kino jenseits von Georges Méliès' Vorstellungen des Films als Medium zum Ausdruck fiktionaler Inhalte ein Fremdwort darstellte. Das Laufbild stand noch weitestgehend in der Tradition von Thomas A. Edison, durch dessen „Kinetoskop" Ende des 19. Jahrhunderts kurze Filme mit Alltagsgeschehen um Boxer, einen Kuss oder einem posierenden Bodybuilder hervorgebracht worden. Der Film war noch eine Jahrmarkts-Attraktion, die Sichtbarkeit der laufenden Bilder wurde zur Schau gestellt, ohne dass eine Handlung erkennbar gewesen wäre.
In diesem filmhistorischen Kontext ist ein Film wie The Great Train Robbery von Edwin S. Porter noch sehr viel bemerkenswerter. Der 10-minütige Western - der erste Film dieses alsbald populären, ur-amerikanischen Genres überhaupt - erzählt die Geschichte um einen Eisenbahnraub und die anschließende Schießerei. Gleichsam jedoch spielt er mit dem Status des Films als Attraktion, wenn Bilder gezeigt werden, die bis dahin unbekannt waren.
In der wohl bekanntesten Einstellung am Ende von The Great Train Robbery sieht man in der Halbnahen einen Cowboy, welcher sein Gesicht der Kamera zugewandt hat und dann seine Pistole Richtung Kamera abfeuert. Das Publikum fühlte sich beinahe physisch verletzt, in den Film mit einbezogen; das Spektakel war perfekt. Diese Art der Reflexivität, wie sie in den Kindertagen des Kinos den Charakter eines Ereignisses hatte, wurde später - nachdem der Narrativierungsprozess des Kinos ab 1906/07 begann und 1913 als abgeschlossen galt - zunehmend unmöglich. Der Blick in die Kamera als Rückkopplung sowie Verweis auf die Anwesenheit eines aufzeichnenden Apparats und des Zuschauers, der als Voyeur entlarvt wird war mit Aufkommen des Studiosystems in den 1920er Jahren in Hollywood endgültig für die folgenden 40 Jahre verpönt.
Porter ließ zudem in seinem Film die Wurzeln des Kinos im Theater erkennen in einer Zeit, in welcher diese heute etablierte Kunstgattung sich als autonome fernab der Fotografie und Theaters noch rechtfertigen musste. Innenaufnahmen sind räumlich abgeschlossen und wirken künstlich arrangiert ebenso wie die Darsteller, welche theaterhaft überhöht ihre Rollen spielen. Die Kamera fotografiert dabei das Geschehen meist starr; Kamerabewegungen und -schwenks sind kaum vorhanden, die Sequenzen, welche zum Teil aus einer einzigen längeren Einstellung bestehen, folgen nacheinander, ohne dass ein echter Erzählfluss aufkommen würde. Auch an Zwischentitel, den „Ersatz" des Stummfilms für das bedeutungsvolle gesprochene Wort, war noch nicht zu denken.
Doch diese Dinge zu kritisieren, ist vermessen im Angesicht der filmhistorischen Bedeutung von The Great Train Robbery, der das Kino auf den Weg brachte, welches es heute beschreitet: Zu einem Medium, das Geschichten mit Laufbildern erzählt (9/10).