Bevor Barbet Schroeder Anfang der 90er als Regisseur zu internationalem Ruhm gelangte und seitdem vor allem Thriller für das US-amerikanische Mainstreamkino dreht, kreierte er in den 70ern und 60ern nicht nur einige äußerst sehenswerte Spielfilme und Dokumentationen, sondern war mit seiner Produktionsfirma „Les Films du Losange“, die er mit 23 Jahren ins Leben rief, auch als Produzent einiger Klassiker der Nouvelle Vague tätig. Ebenfalls von Schroeder produziert, jedoch im Gegensatz zu den Filmen Eric Rohmers, an denen er beteiligt war, in relative Vergessenheit geraten, wurde MÉDITERRANÉE, an dem Jean-Daniel Pollet mit Hilfe Volker Schlöndorffs zwei Jahre arbeitete, eine dreiviertelstündige Bilderflut, die sich jeglicher Kategorisierung entzieht.
MÉDITERRANÉE ist einer der Filme, die sich in Worten kaum beschreiben lassen. Im Grunde setzt er sich aus drei Komponenten zusammen. Zum einen wären da die Bilder selbst, allesamt Dokumentaraufnahmen aus dem Mittelmeerraum, die Pollets Faszination für Leere und Verfall demonstrieren. Nur in den wenigsten Aufnahmen sind überhaupt Menschen zu sehen. Zu den belebtesten gehören wohl die, die eine musizierende Menschenmenge in einem (türkischen?) Küstenort zeigen, die Fahrt eines Fischers aufs Meer hinaus und natürlich die immer wiederkehrenden Bilder von Stierkämpfen. Ansonsten konzentriert Pollet sich auf griechische Tempel, die den Eindruck erwecken, seit Jahrhunderten habe niemand mehr einen Fuß in sie gesetzt, altägyptische Statuen, die Weite des Ozeans, das eingefallene Gesicht einer Mumie, Kamerafahrten an entlegenen Küstenbereichen entlang oder durch Gelände, die mit zusammengestürzten Säulen und Gebäuden übersät sind. In der Art und Weise wie diese Bilder aneinander gereiht werden, ist MÉDITERRANÉE vor allem ein rhythmischer Film, dessen Aufbau stärker noch als die meisten andern an die Struktur eines Musikstücks erinnert und einer inneren Logik folgt, obwohl die Bilder zunächst zusammenhangslos und unverknüpft erscheinen. Viele von ihnen kehren in regelmäßigen Intervallen wieder, vor allem die Aufnahmen aus der Stierkampfarena werden immer wieder eingesetzt, aber auch das schlafende Gesicht eines Mädchens in einem Krankenhausbett oder eine eindrucksvolle Kamerafahrt eine schier endlose Allee entlang, die an ihrem Ende ein kaum sichtbares Haus abschließt. Diese Collage aus Einzeleindrücken rund um das Mittelmeer, von denen ich keinen einzigen nicht beeindruckend fand, werden mit einer der großartigsten Filmmusiken kombiniert, die ich in letzter Zeit gehört habe. Verantwortlich für sie ist Antoine Dumahel, der auch einige der besten Filme Jean-Luc Godards musikalisch untermalte. In MÉDITERRANÉE bietet seine Musik vor allem eins: einen Kontrast zu den vorwiegend stillen, fließenden, leisen Bildern. Mit vollem Orchester erschafft er eine Stimmung der Unruhe und der Beklemmung, die sich den gesamten Film hindurch zieht und schon recht früh bei der ersten Stierkampfszene kulminiert, bei der man meint, es vor innerer Spannung kaum noch aushalten zu können. Dumahels Komposition ist düster, schwer und bedrohlich, und verleiht vielen Bildern einen ganz anderen Anschein als den, den sie hätten, wenn man sie stumm betrachten würde. Teilweise werden statt Musik auch Geräusche aus der Natur verwendet. So fährt die Kamera in einer meiner liebsten Szene um eine verfallene Villa herum, wobei von der Tonspur überlautes Fliegensummen dröhnt. An anderer Stelle zirpen Insekten lautstark oder Pollet lässt von einer Sekunde zur nächsten das johlende Publikum, das den Stierkämpfen beiwohnt, zu Wort kommen. Als dritte Ebene tritt der Off-Sprecher hinzu. Er kommentiert nicht, was wir sehen, sondern trägt einen philosophisch-poetischen Text vor, der viel mit den Bildern zu tun hat, ohne auf sie Bezug zu nehmen. Er ist ebenso fragmentarisch wie sie und behandelt Themen wie Kultur, Verfall, Erinnerung und Vergessen, das alles jedoch in einer äußerst offenen Weise. Selten werden die Worte, die wir hören, konkret und enthüllen genau, was sie meinen. Meist wirkt der Text mehr wie ein Gedicht, sehr assoziativ und verschlüsselt. Dass das alles zusammengenommen, mich nicht wenig begeistert hat, liegt auf der Hand.
MÉDITERRANÉE ist ein wunderbarer, poetischer Film, der wohl selbst dann, wenn man keins der Worte aus dem Off versteht und nach keinem tieferen Sinn in der Bilderflut sucht, eine unglaubliche Wirkung entfaltet. Allein die Musik möchte ich nie mehr aus dem Kopf bekommen.