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Ein Mann, multiple Leben: In der internationalen Co-Produktion „Mr. Nobody“ spielt Jared Leto den letzten sterblichen Menschen in einer futuristischen Hightech-Welt, der sich kurz vor seinem Tod mit 118 Jahren an sein Leben erinnert – und an all die Leben, die durch wichtige Entscheidungen auf seinen Wegen daraus geworden wären. Andere Erfahrungen, andere Lieben, andere Familien, andere Tode – alles, was hätte sein können, scheint sich in seiner Erinnerung parallel abzuspielen.

„Mr. Nobody“ ist ein philosophisch tiefgründiges Vexierspiel mit dem, was wir für Realität und Logik halten, das sich einer eindeutigen Auflösung konsequent verweigert und so sein theoretisches Konstrukt durchgehend unterhaltsam und spannend hält. Das beginnt schon mit der rasanten Einleitung, die mehrere Tode Letos hintereinander aufreiht (und zu denen im weiteren Verlauf noch einige Varianten hinzukommen) und so bei erfahrenen Genre-Zuschauenden vielleicht den Verdacht einer Parallelwelt- oder Übergangsgeschichte vom Leben zum Tod aufkeimen lassen mag. Doch solche herkömmlichen Genre-Erzählungen werden hier immer wieder furios aufgebrochen, indem alternative Erzählstränge nicht eindeutig als solche gekennzeichnet werden – jeder der hier aufgeschlüsselten Lebenswege wird dramaturgisch als gleichberechtigt neben den anderen dargestellt, auch wenn einige mehr Raum erhalten als andere. So bleibt es bis zum inhaltlich und visuell überraschenden Schluss offen, ob und welche Variante hier eher das Prädikat „real“ erhalten dürfte als die anderen.

Und genau darum geht es: Mittels einiger physikalischer und philosophischer Theorien (die Übergänge zwischen diesen beiden Disziplinen sind bei manchen Fragen erstaunlich fließend) wie etwa der Entropietheorie – der Tendenz des Universums, in einen zunehmend chaotischen Zustand zurückzukehren – oder der Chaostheorie wird hier das menschliche Leben als viel weniger – oder auch gar nicht – unter Kontrolle des Einzelnen beschrieben, wie wir uns das gerne einreden. Die undurchschaubaren Mechanismen, die hinter unserer erlebbaren Alltagswelt funktionieren und die von manchen gerne als Schicksal, Zufall oder eben naturwissenschaftliche Elemente beschrieben werden, kommen hier zu einer faszinierend-fiebrigen Erzählung zusammen, die die verschiedenen Möglichkeiten, die ein Leben gehabt hätte, gleichberechtigt nebeneinander aufstellt. Motive wie die große Liebe und der Umgang mit dem Tod erweisen sich dabei immer wieder als zentrale Inhalte jeder Lebensvariante, sodass es mitten im sich entwickelnden Chaos doch so etwas wie einige Konstanten zu geben scheint.

Das alles kommt keineswegs so theoretisch daher, wie es vielleicht klingen mag, auch wenn zwischendurch immer mal wieder kurze Crashkurse in die jeweiligen Theorien geboten werden. Im Gegenteil: Über zwei Stunden hält der Film sein hohes Erzähltempo, wechselt zwischen den parallelen Leben sowie diversen Zeitebenen, zeigt einen zunehmend verwirrten Jared Leto, der so etwas wie ein Gespür für seine parallelen Leben zu haben scheint, lässt diese Erzählstränge aber nie zu einer einheitlichen Linie kumulieren. So bleibt „Mr. Nobody“ bis zum Schluss ein spannendes Verwirrspiel mit Realitäten und Erzählsträngen, das ganz nebenbei auch herkömmliche Dramaturgien ad absurdum führt.

Ein wenig schwächt sich der Film nur selbst durch seinen ausgeprägten Hang zu Pathos und Kitsch. Dramatische Tode in Zeitlupe, schwülstige Liebeserklärungen, bedeutungsschwangere Blicke, zuckersüße und dabei sehr klischeehafte Momente aus glücklichen Familienleben – streckenweise gibt es von all dem viel zu viel. Auch bleiben manche Szenen haarsträubend unsinnig, wie etwa diejenige auf dem Bahnsteig, als die geschiedene Mutter in den Zug steigt und der Sohn sich entscheiden soll – steigt er ebenfalls ein oder bleibt er beim Vater auf dem Bahnhof? Das mag eine simple Methode zur Visualisierung der unglaublich schweren Entscheidung sein, ist aber erzählerisch kompletter Blödsinn. Auch die Fokussierung auf die schicksalhafte große Liebe kommt arg klischeehaft daher. Und auf technischer Seite darf man froh sein, dass einige unglaublich schlecht getrickste Raumschiffszenen nur von sehr kurzer Dauer sind.

Trotzdem erweist sich „Mr. Nobody“ als faszinierende, philosophisch komplex unterfütterte, temporeich erzählte und durchgehend spannende Geschichte über all das, was unsere alltäglichen Entscheidungen ermöglichen und verhindern. Liebe und Verlust, Trauer und Hoffnung verweben sich hier zu einem packenden Werk, das wohl kaum jemanden unberührt lassen wird. Und das am Ende neben all der Melancholie über Nichtgewordenes auch einen Schimmer Hoffnung ermöglicht darauf, dass nichts für immer verloren bleibt.

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