Es geht um die Perspektivlosigkeit von Studienabgängern, um prekäre und unsichere Arbeitsverhältnisse mit zeitlich begrenzten Verträgen, um Entrechtung von Arbeitnehmern, um Menschen-degradierende Konzern-Politik, um gesellschaftliche Spaltung, Endsolidarisierung der Menschen und Ellbogen-Mentalität, um entmachtete, aber profilneurotische Gewerkschaften.
Oder kurz: Um die Folgen wirtschaftsliberaler Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik.
Im Mittelpunkt der Ereignisse steht die junge Italienerin Marta (großartig, sympathisch, empathisch, geil: Isabella Ragonese), die nach dem geisteswissenschaftlichen Studium auf den harten Boden der Realität fällt, vom Verlust ihrer Ideale und Ziele bedroht ist. Sie endet vorläufig als Tele-Marketerin im Call Center eines Sekten-mäßig aufgebauten Konzerns. Um den Leistungsdruck in diesen autoritären Strukturen zu erfüllen, nutzt Marta sogar ihr im Studium erworbenes Wissen dazu, Menschen am Telefon zu manipulieren und ihnen wertlose Produkte aufzudrängen, um ihr Soll zu erfüllen und ihren wackeligen Arbeitsplatz nicht zu gefährden. Sie ist also davon bedroht, ihre Seele an den Teufel zu verlieren.
Die Italiener können manchmal verheerende Themen in lockeren, lebensbejahenden Filmen verwurschteln, ohne dass dabei der Ernst und die Tragik der behandelten Themen banalisiert würde. "La vita è bella" (der immerhin Deutschlands Tötungsmaschinerie als Setting hat) zeigt das deutlich.
Daher wundert einen beim Sehen von "Tutta la vita davanti" nicht, dass hier gesellschaftliche Spaltung und unsichere Lebensverhältnisse als Konsequenz von wirtschaftsliberaler Arbeitsmarkt- und Sozial-Politik auf eine leicht bekömmliche Weise verhandellt werden.
Dabei ist Paolo Virzis Film ist im Grunde genommen ein nicht kategorisierbares Dingsbums bestehend aus märchenhaften Elementen, surrealen Musical-Einlagen, beißender und überdrehter Kapitalismus-Satire, Verflechtungs-Komödie, sozialrealistischen Elementen, überzeichneten Nebenfiguren, melancholischen und tragischen Momenten. Insgesamt ein schöner Film also, der mit seinen tonalen Schwankungen ein leicht verdauliches Ganzes ergibt, was aber nicht auf Kosten der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Strukturen geht.
Erwähnenswert ist dabei besonders Virzis Inszenierung, die überdrehte Exzentrik mit ruhigen, menschlichen Momenten ausbalanciert, zudem sehr schön und dynamisch mit dem Setting im sterilen, kühl-ästhetischen Call Center umgeht und immer wieder neue Bildkombinationen findet. Recht gekonnt wird das Geschehen auch manchmal aus der Sicht der Protagonistin verfremdend visualisiert, was mal märchenhafte, mal comichaft quirlige Bilder erzeugt. Und generell fällt die agile Kamera auf. Dauernd in Bewegung und so die Rastlosigkeit des modernen Alltags wiederspiegelnd.
Bisweilen wirkt die Erzählstruktur leider etwas unfokussiert und zerfahren: Das bittersüße coming-of-age-late Drama der Protagonistin Marta wird aufgeweicht mit einer Vielzahl an Subplots und Nebenfiguren. Das reduziert die Protagonistin stellenweise auf die Rolle einer Beobachterin und einer Lernenden.
Andererseits bietet das aber die Chance, aus dem subjektiven und eigenwilligen Blickwinkel der jungen Hauptfigur die neoliberale Gesellschaft als tragisch-komischen Zirkus zu entlarven. Zudem ermöglicht der exzessive Einsatz von Subplots und Nebenfiguren, eine breite Palette von Einzelschicksalen abzulichten im heutigen Italien (und darüber hinaus, denn die hier dargestellten Strukturen sind z. B. in der von Marionetten des Kapitals und regierten Bundesrepublik Deutschland auch nicht viel anders).
Dies ist gelungen, wenngleich “Tutta la vita davanti” im letzten Drittel völlig auseinander zu brechen droht aufgrund der zahlreichen verhedderten Handlungsstränge und Nebenfiguren, die sich allesamt Gehör verschaffen. Und das Schwierigkeiten überwindende und positiv in die Zukunft blickende Ende des Films ist zumindest diskutabel. Ändert aber nichts daran, dass der Film eine sehr charmant, herzliche und leicht goutierbare Tragik-Komödie ist, was unter anderem auch an der sehr charismatischen, den Film zusammenhaltenden Hauptdarstellerin Isabella Ragonese liegt.