Review
von Alex Kiensch
Die Ankunft eines jungen, idealistischen Arztes auf einer abgelegenen kanadischen Insel setzt eine Reihe dramatischer Ereignisse in Gang: Bei einem seiner Hausbesuche entdeckt er die junge Frau Belinda (Jane Wyman), die aufgrund ihrer Taubstummheit von der Dorfbevölkerung als zurückgeblieben angesehen wird. In Wahrheit ist sie eine einfühlsame, intelligente Person, die dank des Arztes schnell Zeichensprache lernt und die Freude am Leben entdeckt. Auch ihr anfangs etwas störrischer Vater freut sich über ihre Fortschritte. Doch als Belinda einer Gruppe tanzwütiger junger Dorfbewohner über den Weg läuft, nimmt das schwere Schicksal seinen Lauf...
Hinter dem harmlosen deutschen Titel „Schweigende Lippen" verbirgt sich ein erstaunlich mutiges und modernes Drama, das keinerlei Scheu hat, für seine Zeit enorm heiße Eisen anzufassen: Vergewaltigung, uneheliche Kinder, Engstirnigkeit und Vorurteile, bis hin zu Mord und Totschlag. Seine stärksten Momente hat die Literaturverfilmung dabei in jenen Szenen, in denen sie die dörfliche Kleingeistigkeit vorführt: Klatschbasen und selbsternannte Hellseherinnen, die sich die Mäuler über Menschen zerreißen, ohne je mit ihnen selbst gesprochen zu haben; die kollektive Dorfstimmung, die sich aufgrund falsch weitergegebener Gerüchte und Lügen gegen einzelne Menschen und Familien richtet; und am Ende fühlen sich alle im Recht, in bester Selbstjustizmanier nach eigenem Gutdünken für Ordnung zu sorgen. Eine so gesellschaftskritische Darstellung selbstgerechter Kleinstädterei findet man nicht alle Tage.
Berühren kann der Film aber auch in seinen stillen Momenten mit nur wenigen Agierenden. Die Entwicklung Belindas von der stummen Arbeiterin hin zur aufblühenden jungen Frau und sogar liebevollen Mutter ist mit einer gehörigen Portion Einfühlungsvermögen inszeniert. Zugegeben, in einigen Details merkt man dem Film an, dass er vergangener Zeiten Kind ist: Wie etwa der Arzt Belinda die Zeichensprache beibringt, ohne groß auf ihre Interessen oder ihre persönliche Situation einzugehen, erfolgt mit einer derart herablassenden Selbstverständlichkeit, dass sich heutige Betroffene durchaus beleidigt fühlen könnten. Und auch Belindas geistige Fortschritte erfolgen dann doch arg zügig und problemlos. Hier werden einer gestrafften Dramaturgie wegen einige Entwicklungsschritte übersprungen. Auch kann aus heutiger Sicht der stellenweise allzu kitschige Score sehr irritieren.
Dafür überzeugt „Schweigende Lippen" immer wieder mit seiner für damalige Verhältnisse sehr modernen Auffassung über „Andersartigkeit" und Integration. Die Ignoranz der Dorfbewohner - und am Ende auch hochrangiger Gerichtsbeamter, denen man eine gewisse Bildung unterstellen sollte - gegenüber allen Menschen, die irgendwie von der Norm abweichen, wird hier eindrücklich vor Augen geführt. Zugleich zeigt der Film aber auch die tiefe Menschlichkeit einfachen Mitgefühls und gegenseitiger Hilfsbereitschaft, die ein solches soziales Gefälle im Grunde unnötig machen würde. Als Plädoyer für die Weitung des eigenen Horizonts und das Bemühen, alle Menschen als gleichberechtigt anzusehen und sich nicht von Oberflächlichkeiten lenken zu lassen, ist „Schweigende Lippen" durch und durch gelungen.
Dieser starken Aussage wegen kann man auch über einige kleine dramaturgische Ungeschicklichkeiten und Klischees hinwegsehen. Und die meistens eher wenig beeindruckenden Studiokulissen werden am Anfang durch eine Reihe beeindruckender Bilder der kanadischen Insel kompensiert. Mit diesem Film hat man einen echten Klassiker des sozial engagierten Hollywoods vor sich.