Dass über spezielle italienische Exploitation-Filme der 70er Jahre oder osteuropäische Avantgardewerke der 60er nahezu keine Informationen zu bekommen sind, weder im Netz noch in Publikationen, kann ich durchaus nachvollziehen. Anders liegt der Fall jedoch bei einem Film wie CHRISTUS des italienischen Regisseurs Giulio Antamoro, der eigentlich ein Festschmaus für jeden Filmhistoriker sein sollte. Es handelt sich zwar beileibe nicht um die allererste Verfilmung des Lebens und Sterbens Jesu Christi, allerdings wohl um die bis dato aufwändigste und kostspieligste, und mit einer für das Jahr 1916 nahezu epochalen Laufzeit von eineinhalb Stunden um ein wahres Opus. Trotzdem schweigt sich jede Quelle über jedwede näheren Hintergrundsinformationen zu dem Film aus. An der Qualität des Werks kann das nicht liegen.
Natürlich handelt es sich, wie bei vielen Stummfilmen, die ein literarisches Werk zur Vorlage haben, nicht um eine eigenständige Interpretationen oder Deutung der Evangelien, sondern eher um eine reine Bebilderung der dort niedergeschriebenen Ereignisse. CHRISTUS soll ausschließlich von den Taten Jesu handeln, von seiner Passion und seiner Wiederauferstehung, ohne diese in irgendeiner Form zu kommentieren.
Antamoro, der mehrere Jahre für die Vollendung des Films benötigte, teilt sein Werk in drei Geheimnisse ein. Das erste Geheimnis umfasst solche Ereignisse wie die Geburt Jesu und die Flucht nach Bethlehem. Im zweiten Geheimnis wird dann geschildert wie Jesus durch die Lande zieht, seine Jünger um sich versammelt und Wundertaten vollbringt. Die Passion, die Kreuzigung und die Wiederauferstehung werden schließlich im dritten Geheimnis illustriert. Dabei handelt es sich bei CHRISTUS, meiner Meinung nach, um einen Film, der qualitativ deutlich in verschiedene Teile zerfällt. Vor allem das zweite Geheimnis, in Ansätzen bereits das erste, scheint über keinen einheitlichen Rhythmus zu verfügen und besteht im Grunde aus einer recht willkürlichen Aneinanderreihungen wahlloser Szenen. Da man verständlicherweise nicht sämtliche Geschehnisse aus allen vier Evangelien verfilmen konnte, beschränkte man sich auf das Wesentliche, wobei eine unüberschaubare Anzahl äußerst kurzer Szenen entstand, die es nicht schaffen, sich homogen aneinanderzufügen. Die Dreiviertelstunde, die die ersten beiden Teile zusammen einnehmen, bietet zwar vereinzelt brillante Szenen, das Gros jedoch leidet darunter, dass ihnen kaum Raum bleibt, um sich zu entfalten.
Ebenfalls störend sind die Zwischentitel, die Antamoro inflationär einsetzt, und von denen einige wenig zum Verständnis der Geschichte beitragen. Viele hätten getrost weggestrichen werden können, da sie entweder eher unwichtige Informationen enthalten, oder weil sie etwas beschreiben, das nicht hätte beschrieben werden müssen, da die Bilder es sowieso zeigen.
Auch überzeugte mich der Schauspieler, der in die Rolle Jesu schlüpfte, nicht wirklich. Die meiste Zeit trägt er denselben entrückten Gesichtsausdruck, und lässt sich nicht zu den geringsten Nuancen von Emotionen hinreißen. Der Christus in CHRISTUS steht deutlich außerhalb der Welt, die ihn umgibt. Zwar schart er Anhänger um sich, die Bewohner einiger Städte empfangen ihn festlich, trotz allem bleibt er reserviert, verschlossen und unbeteiligt.
Rein inhaltlich ist es natürlich schwer, eine Kritik an dem Stoff zu üben. Antamoro wählte wohl einigermaßen geschickt zentrale Episoden aus dem Leben des Messias aus und veranschaulicht sie oftmals, indem er sich auf Gemälde beruft, die diese in der Vergangenheit darstellten. Besonders auffallend wird das bei der Abendmahlsszene, wo man es sich nicht nehmen lässt, Jesus und seine Apostel als eine Art Stillleben exakt so anzuordnen wie auf dem berühmten Bild von Leonardo da Vinci. Sogar den Namen des Künstlers blendet man in einem weiteren (unnötigen) Zwischentitel ein. Der Film beruft sich demnach vollkommen bewusst auf eine Tradition bildender Künste, reiht sich vielleicht sogar selbst in diese Linie ein, als modernes Gemälde in belebten Bildern.
Das letzte Abendmahl ist auch der Wendepunkt, wo der Film von einem historisch interessanten zu einem wird, der einen aufgrund seiner Bilder auch heute noch berühren kann. Grund dafür ist, dass Antamoro sich in den letzten fünfundvierzig Minuten einzig und allein auf die Passion konzentriert. Lästige Zwischentitel fallen ebenso weg wie die vielen Kurzszenen, es wird mehr Wert auf Details gelegt. Auch in diesem Teil wird niemandem, der schon mal mehr als einen flüchtigen Blick in die Bibel warf, etwas begegnen, das er noch nicht so oder so ähnlich irgendwo schon mal gesehen hat, allerdings hat mich das dritte Geheimnis nichtsdestotrotz ziemlich begeistert. In einer Mischung aus Grauen und Trauer wird eine intensive Stimmung erreicht, die ich so noch in keinem Christusfilm gefunden habe.
Lobend ist Antamoro jedoch noch mehr anzurechnen. Zum einen kann man wohl nicht dankbar genug sein, dass in CHRITUS auf Kitsch, wie ihn Hollywood gerne in seinen Bibelverfilmungen einbringt, fast völlig verzichtet wurde. Einzig die Szene der Geburt Jesu, wo sich der Himmel öffnet und ein Reigen Engel auftaucht, die aussehen wie aus süßlichen Postkarten ausgeschnitten, und die finale Auferstehung schrammen für heutige Verhältnisse leicht an der Grenze zur unfreiwilligen Komik vorbei. Ansonsten bleibt der Film dezent, zurückhaltend, und hält sich fern von übertriebener Verklärung und Frömmigkeit. Die Spezialeffekte, die eingesetzt werden, um beispielsweise den Gang über das Wasser zeigen zu können, sind freilich antiquiert und eindeutig als solche zu erkennen, in ihrer Schlichtheit jedoch alles andere als lächerlich. Und zudem bringt Antamoro teilweise Bilder, die ein Fest für die Augen sind. Hier waren es interessanterweise vor allem die unheimlichen Szenen, die mir am besten gefielen. Wenn Judas sich erhängt, dann wird der Baum, an dem er sich aufknüpfte, fast völlig in Nebelschwaden getaucht, einsam und verlassen baumelt sein regloser Körper von einem Ast herab, eine Szenerie, die mich an gewisse Gemälde von Caspar David Friedrich erinnerte. Der Teufel, der Jesus in der Wüste zu verführen trachtet und sich später über Judas hermacht, scheint keinen Unterleib zu besitzen und bewegt sich kriechend wie eine Schlange fort. Bei der Erweckung des Lazarus befindet sich die Kamera in der Höhle, in der man den Toten unterbrachte, filmt seine Auferstehung also aus der Finsternis heraus, sodass man Lazarus selbst nur von hinten zu sehen bekommt, während er in das Licht schreitet, das sich durch den Höhleneingang, wo Jesus und das Volk stehen, in die Dunkelheit ergießt.
Da vor allem der dritte Teil von CHRISTUS gespickt mit derartigen eindrucksvollen Szenen ist, kann ich mir vorstellen, dass der Film selbst für jemanden, der nie einen Fuß in ein Gotteshaus setzte und es auch nicht vorhat, ein Genuss sein kann. Überstanden muss hierfür allerdings der holprige Mittelteil werden, der sich für mich zu einer wahren Geduldsprobe entwickelte.