Review

Auch bei dem französischen Film LA VIE ET LA PASSION DE JÉSUS CHRIST kann ich mich nur darüber wundern, dass er heute in Vergessenheit geraten zu sein scheint. Im Grunde kann ich alle Superlative, die ich bereits in meiner Kritik zu Giulio Anatamoros CHRISTUS verwendet habe, auch hier anwenden, und eigentlich die gesamte Einleitung wiederholen:

Dass über spezielle italienische Exploitation-Filme der 70er Jahre oder osteuropäische Avantgardewerke der 60er nahezu keine Informationen zu bekommen sind, weder im Netz noch in Publikationen, kann ich durchaus nachvollziehen. Anders liegt der Fall jedoch bei einem Film wie LA VIE ET LA PASSION DE JÉSUS CHRIST der beiden Regisseure Lucien Nonguet und Ferdinand Zecca, der eigentlich ein Festschmaus für jeden Filmhistoriker sein sollte. Es handelt sich zwar nicht um die allererste Verfilmung des Lebens und Sterbens Jesu Christi, allerdings wohl um die bis dato aufwändigste und kostspieligste, und mit einer für das Jahr 1903 bzw. 1905 (über das genaue Erscheinungsdatum streiten sich die Quellen: die häufigste Information ist jedoch die, dass der Film ursprünglich 1903 veröffentlich wurde, allerdings in den kommenden Jahren nochmals überarbeitet und 1905 in einer finalen Fassung herausgebracht wurde) nahezu epochalen Laufzeit von  fünfundvierzig Minuten um ein wahres Opus. LA VIE ET LA PASSION DE JÉSUS CHRIST scheint sogar der bis dato längste Spielfilm überhaupt gewesen sein. Trotzdem schweigt sich jede Quelle über jedwede näheren Hintergrundsinformationen zu dem Film aus. An der Qualität des Werks kann das nicht liegen.

Interessant finde ich, dass sowohl Antamoro als auch Noguent und Zeccara beinahe die gleichen Episoden aus den Evangelien verwendeten, um sie von ihrem Film illustrieren zu lassen. Rein inhaltlich gleichen die beiden Filme sich fast völlig, auch wenn von der technischen Seite die etwa zehn Jahre, die zwischen ihnen liegen, deutlich zu erkennen sind. Klar sollte sein, dass LA VIE ET LA PASSION DE JÉSUS CHRIST in Einzelszenen unterteilt ist, die sich vorwiegend auf Bühnen abspielen, vor gemalten Kulissen (die auch deutlich als solche zu erkennen sind) und ausgestattet mit verschiedenen Theaterrequisiten. Eine Kamerabewegung findet freilich gar nicht statt und es gibt nur wenige Szenen, die nicht in einem Studio, sondern unter freiem Himmel gedreht wurden. Dennoch hat mir der Film optisch außerordentlich gut gefallen. Die einzelnen Szenen wurden sehr sorgfältig und mit Wert auf Details gestaltet und sind zudem derart kurz, dass ihre Statik nicht negativ auffällt. Auch die naiven Hintergründe, die teilweise wackeln, wenn einer der Schauspieler versehentlich gegen sie stößt, tragen aus heutiger Sicht zu dem nostalgischen Charme bei, den der Film versprüht.

Die eingestreuten Zwischentitel ähneln mehr kurzen Kapitelüberschriften und beschränken sich auf das Wesentliche, geben dem Betrachter einzig Hinweise darauf, was er in der kommenden Szene zu sehen bekommt, erklären und deuten nichts, sind vielleicht sogar eher zu spärlich, dadurch, dass die zugrundeliegende Geschichte wohl jeder halbwegs belesene Mensch kennen dürfte, reichen die zwei bis drei Worte pro Zwischentitel allerdings völlig aus. Besonders gefallen hat mir der Einsatz von Farbe. LA VIE ET LA PASSION, produziert von Pathé, einer der bedeutendsten Produktionsfirmen in der Frühzeit des Kinos, deren Logo, zwei Hähne, einer links, einer rechts, man in jeder Zwischentiteltafel zu sehen bekommt, wurde für die Vorführung in besonders exklusiven Kinos teilweise handkoloriert, was für ziemlich ungewohnte und faszinierende Effekte sorgt, wenn in einer Szene beispielsweise nur die Mäntel römischer Soldaten bunt aus dem schwarzweißen Rest herausstechen.

Wo ich bei CHRISTUS kritisierte, dass er in den ersten beiden Teilen in seiner Szenenabfolge recht beliebig und zusammenhanglos wirkt, konnte LA VIE ET LA PASSION mich mehr überzeugen. Zwar wird auch hier keine geschlossene Geschichte erzählt, doch schafft der Film es dadurch, dass alle Szenen etwa gleichlang sind, zu einem einheitlichen Rhythmus zu finden, den nicht mal die Passion am Ende aus der Ruhe bringen kann. Während die Passionsgeschichte in CHRISTUS die Hälfte der Spielzeit gewidmet wurde, nimmt sie hier gerade mal ein Drittel ein und ist nicht ansatzweise so intensiv dargestellt wie in dem Film von Giulio Antamoro. Im Grunde wirkt LA VIE ET LA PASSION so, als würde man in gleichmäßigem Tempo durch eine Gemäldegalerie wandern und vor jedem Bild eine kurze Pause einlegen. Sicher haben die meisten der damaligen Filme eine solche Wirkung auf ein heutiges Publikum, doch bei LA VIE ET LA PASSION trägt es nicht unbedeutend dazu bei, dass eine gewisse sakrale, ruhige, besinnliche Atmosphäre entsteht, die den Inhalt des Films zusätzlich unterstreicht. Das Werk erscheint als geschlossenes Ganzes, was umso bemerkenswerter ist, wenn man die Entstehungsgeschichte in Betracht zieht. So zogen sich die Dreharbeiten über Jahre hinweg und wenn man genau aufpasst, kann man sogar erkennen, dass von einer Szene zur nächsten die Schauspieler wechseln.

Im Gegensatz zu CHRISTUS fehlen LA VIE ET LA PASSION leider jedwede Höhepunkte. Jede Szene ist ein Kunstwerk für sich und unterscheidet sich qualitativ kaum von denen, die vor ihr kamen oder nach ihr kommen. Von den Schauspielern darf man keine Überraschungen erwarten, jedoch benimmt sich wenigstens der Darsteller Jesu nicht, wie in CHRISTUS, wie ein Somnambuler, dafür scheint er allerdings, was vor allem die einzige Großaufnahme des Films enthüllt, von einem recht alten Mann gespielt zu werden, der sich nicht wirklich mit der gängigen Vorstellung eines Christus von etwa dreißig Jahren vereinbaren lässt.

Die Spezialeffekte haben denselben naiven Charme wie die Kulissen, den man in vielen der damaligen Filmen findet, und driften nie in allzu kitschige Gefilde ab. Einzig bei der schlussendlichen Himmelsfahrt des Messias wird man sich heute kein Lächeln mehr verkneifen können. Dafür gehört die Szene, in der Jesus über die Oberfläche eines Sees wandelt, in ihrer stillen Poesie wohl zu meinen liebsten des Films. Eine andere, die mir recht gut gefiel, war die, in der Maria und Joseph mit dem Christuskind vor den Kindermördern Herodes flüchten und sich schon fast in ihren Fängen wähnen, als ein Engel auftaucht, sie unsichtbar werden lässt und die Häscher mit einem Schwert in die Flucht schlägt, eine Szene im Übrigen, die in der Art und Weise wohl nicht in der Bibel geschildert wird.

LA VIE ET LA PASSION DE JÉSUS CHRIST ist mit Sicherheit kein Film für jeden. Selbst Freunde des Stummfilmkinos werden sich schwer tun mit den vielen „Fehlern“ und Unzulänglichkeiten, die das heutige Betrachterauge in ihm entdeckt. Nichtsdestotrotz gehört er für mich zu den eindrucksvollsten Werken der 1900er Jahre.

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